Weisheiten aus dem "Uribiccionario"

Kolumbien Wir haben alles im Griff, beteuern Präsident Uribe und die Seinen, auch wenn sie nicht danach gefragt werden

Die Landung in Eldorado, Bogotás Flughafen, ist ausgesprochen soft, trotz des schwierigen Anflugs über die Viertausender in den Ost-Kordilleren, denn die Maschine kann auf der zweitlängsten Piste der Welt ausrollen. Im Flughafengebäude empfangen die Anreisenden großzügig angelegte Gänge, die luxuriös mit Marmor und Abbildungen indianischen Schmucks ausgestattet sind. Der erste angenehme Eindruck endet abrupt, sobald man den Flachbau der Einreisebehörde (DEA) betritt. Diese Personenschleuse hat keine Belüftungsanlagen, und über den langen Warteschlangen lastet ein bedrückendes Klima. Wenige Tage zuvor erlitt eine Spanierin hier einen Herzinfarkt, wie ich später in der Wochenzeitung Semana lese. Sie starb, weil es auf dem Airport der Hauptstadt Kolumbiens keinen Arzt gab.

Nach peniblen Pass- und Gepäckkontrollen wird beim Geldwechsel in der Flughafenhalle ein Fingerabdruck verlangt. Sonst gibt es keinen Peso. Hier soll offenbar vorgeführt werden: Wir haben alles im Griff. Nach der Prozedur nehme ich eines der 50.000 gelben Taxis, die in dieser Stadt mit ihren mehr als sieben Millionen Einwohnern zirkulieren. Der Taxifahrer heißt Alberto José Abuchaibe wie dem Plastikschild nebst Registrierungsnummer zu entnehmen ist. Die Zu- und Ausfahrt des Flughafengeländes sind militärisch streng bewacht. Die Bilder der mit modernsten Maschinenpistolen ausgestatteten Militärposten in Abständen von einigen hundert Metern reißen auch auf dem Weg ins Stadtzentrum entlang der zweispurigen Avenida Eldorado nicht ab.

Alberto José Abuchaibes überaus höflicher Umgang ist gewöhnungsbedürftig, weil unterschwellig zu servil. Außerdem erscheint er für jemanden, der zwölf Stunden täglich durch diesen höllischen Verkehr fahren muss, ausgesprochen gesprächig. Gestern wurde er Vater, sein Sohn heißt José Alberto. José nach dem Großvater und Alberto nach ihm. Nein, er sei kein "bogotáno". Vor zwei Jahren kam er aus dem Norden der Provinz Valle del Cauca (westlich der Zentral-Kordillere). Seine mittelgroße Kaffee-Finca, die sein Vater in den fünfziger Jahren durch den Verkauf indianischer Gräberfunde in den Wäldern der Provinz Quindíos erworben hatte, musste er zwangsweise abgeben. Die "Paras", rechte Paramilitärs, hätten sich in der Gegend niedergelassen, und nach einem Überfall auf die Plantage, bei dem ein Bruder und ein Neffe erschossen wurden, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als mit Frau und Tochter zu fliehen.

Alberto hat schließlich ganz im Süden Bogotás, im "Kennedy-Viertel", eine Zwei-Zimmer-Wohnung und später das Taxi auf Raten gekauft. Aus einem ländlichen Mittelständler wurde einer, der gerade über die Runden kommt. Einer von 300.000 "Desplazados", die der Bürgerkrieg vertrieben hat und die in Bogotá Zuflucht suchen.

Warum die Generäle entlassen?

Ich bin auf dem Weg zum Campus der Universidad Nacional, um mit Dozenten und Studenten der Politikwissenschaften über das Ereignis des Tages zu diskutieren, die Visite von Condoleezza Rice. Die Schlagzeile der Tageszeitung El Tiempo gilt allerdings der Außenministerin nur indirekt und lautet: "Die letzte Stunde von vier Generälen". Als politische Geste entlässt Präsident Alvaro Uribe am Tag des hohen Besuchs aus Washington vier Armeekommandeure und reagiert damit auf eine blamable Niederlage der Streitkräfte bei der jüngsten Operation der FARC-Guerilla im Departement Cauca. Dort hielten Einheiten der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia im April eine Woche lang eine Ortschaft besetzt und verdrängten die Nationalarmee aus einem Gebiet, das angeblich staatlicher Kontrolle unterliegt. Wäre die Lage nicht so ernst, könnte man über die Paradoxie dieses Vorgangs lachen, denn offiziell existiert für die Regierung kein bewaffneter Konflikt im eigenen Land, schon gar kein Bürgerkrieg. Warum also die Generäle entlassen?

Als Condoleezza Rice kolumbianischen Boden betritt, erklärt sie unumwunden: Die USA empfänden die "Instabilität Lateinamerikas" als "besorgniserregend". Dies gilt besonders Venezuela, Hugo Chávez und dessen Waffenkäufen in Russland und Spanien. "Besorgniserregend" mag aber für die Bush-Regierung auch das Verhalten der venezolanischen Opposition sein, die nach ihrem Scheitern beim Referendum im August 2004 mit der Regierung in Caracas wieder ins Geschäft kommen will - soweit es die Unternehmer betrifft. Noch unerträglicher für die Amerikaner dürfte freilich der Umstand sein, dass Präsident Chávez die Refinanzierung des Energiesektors in Kuba übernommen hat.

Selbst wenn Rice vorrangig Venezuela im Visier hat, gemeint sind auch - darüber kann man sich in der Universidad Nacional schnell einigen - die sozialdemokratischen Regierungen Argentiniens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays. Haltet Abstand zu Chávez, heißt die Botschaft, und ihr tut den Vereinigten Staaten einen großen Gefallen.

Am Abend treffen wir uns im Restaurant La Romana in der Avenida Jiménez und reden über ein Kommuniqué, das aus der Universidad Nacional kommt und auf der zweiten Seite von El Tiempo stark gekürzt abgedruckt wurde: Beängstigend sei, heißt es darin, dass die Regierung Uribe gegen die sich verbreitenden Fällen von Drogenhandel seitens der US-Einheiten, die hier stationiert sind, nichts unternehme. Jüngst wurden vier US-Soldaten der Anti-Drogeneinheit mit mehreren Kilo Kokain erwischt, aber nicht verhaftet, sondern nach Miami ausgeflogen. Nach einer Regierungsvereinbarung von 1997 genießen US-Militärs in Kolumbien diplomatische Immunität. Sie können folglich von den Behörden des Landes weder verhaftet noch vor Gericht gestellt, geschweige denn verurteilt werden. Andererseits stimmte Präsident Uribe bisher jedem Auslieferungsersuchen von US-Behörden zu, das kolumbianischen Staatsbürgern galt.

An nächsten Tag sehe ich im "Centro Andino" den Film La sombra del caminante (Der Schatten des Trägers). Das Erstlingswerk des Regisseurs Ciro Guerras erhielt bei Festivals in San Sebastian, Havanna und Guadalajara mehrere Preise. Geworben wird für den Schwarz-Weiß-Streifen unter anderem mit dem Foto eines "silleteros", eines Lastenkulis, der ein hölzernes Sitzgestell auf dem Rücken trägt, mit dem bis Anfang des 20. Jahrhunderts Reisende aus Europa über die Anden gebracht wurden. Beeindruckt davon, wie Menschen in Bogotá heute ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, zeigt Guerras die Figur eines solchen Trägers, der erst für 50, dann für 500 Pesos Menschen durch die Stadt schleppt. Mit der Zufallsbekanntschaft eines Mannes, der nur ein Bein hat und ebenfalls eine Randexistenz ist, konstruiert der Film zwei Biographien, die miteinander in Berührung kommen. Die Männer versuchen, Freunde zu werden. Leider weiß der Zuschauer gleich zu Beginn um den Schluss- und Höhepunkt der Fabel: die Enthüllung der wahren Identität der Figuren. Der Träger entpuppt sich als Täter-Opfer, als Ex-Para(militär), und der Mann ohne Bein ist Opfer der "Violencia", der Gewalt des Bürgerkrieges. Guerras beschreibt Kolumbiens Gegenwart und urteilt: Eine Annäherung zwischen den beiden Protagonisten scheint möglich - eine Freundschaft nicht.

Wo haben die Sklaven gewohnt?

Tags darauf bin ich auf dem Flug nach Pereira, um an der dortigen Universität einen Vortrag und ein Seminar zu halten. Von der Puente Aéreo Nacional, der Nationalen Luftbrücke, fliegt man zunächst nach Norden, das Magdalena-Flusstal hinauf, und überquert dann die West-Kordillere. Ich habe großes Glück und kann das Schneefeld des Gletschers El Ruíz und den Vulkankegel des Pico Tolima sehen. Es folgen die grünen Täler einer einst reichen Kaffeeregion, der Eje cafetero, mit den Städtchen Armenia, Manizales und Cartago. Nach 35 Flugminuten landet die Maschine in Pereira, der Hauptstadt des Departements Risaralda, die heute als eines der kommerziellen Zentren Kolumbiens gilt, da nicht zuletzt die Anlage von Geldern aus dem Drogengeschäft einen rasanten Aufschwung beschert. Ein gigantischer Viadukt verbindet Stadtteile über ein Tal hinweg, neben dem Convention Center ist ein neues Kulturzentrum von der Größe des Pariser Centre Pompidou entstanden.

Am späten Nachmittag fahren mich Kollegen der Universität zum Campus, der einen wunderbaren Blick auf die West-Kordillere mit dem höchsten Bergkamm erlaubt, dem El Tatamé mit seinenWäldern, die in drei Departements hineinreichen. Mein Vortrag findet im Vorlesungssaal der Medizinischen Fakultät statt, neben Blumen schmücken drei Fahnen den Raum: die kolumbianische, die der Stadt und die des Departements. Es ist selten geworden, dass "Ausländer" außerhalb Bogotás Gasteinladungen annehmen, entsprechend groß ist das Interesse bei Studenten und Dozenten. Die Debatten gehen nach dem Abendessen bis in die Nacht hinein. Obwohl ich es schon kenne, bin ich wieder verblüfft, wie viel Rum mit Eis und Limettensaft konsumiert werden kann.

Nach dem Seminar kann ich endlich mein heimliches Lieblingsinstitut an der Fakultät für Umweltwissenschaften besuchen. Dank eines Programms der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) wurde hier durch den Geologen Michael Tistl vor sieben Jahren ein Müllrecyclingprojekt für Pereira entwickelt. In den vergangenen Jahren erkundete man überdies sehr erfolgreich das heimische Guada (eine Art Bambus), das zum Bauen von Häusern, Brücken und Möbeln eingesetzt wird. Eine elegant geschwungene Guada-Brücke verbindet beispielsweise Teile des Campus über eine Durchfahrtsstraße hinweg.

Es trifft sich gut, kolumbianische GTZ-Kollegen wollen auch heraus fahren zur jüngst entdeckten Salzquelle des Consota-Flüsschens südöstlich Pereiras, meiner heimlichen Lieblingsgegend. Durch seine Recherchen über die Alltagsgeschichte der Region hat Michael Tistl die wahrscheinlich seit mehr als 1.000 Jahren genutzte Quelle gefunden. "Oral history" heißt das Stichwort, Einheimische erinnerten sich der Salzquelle aus Erzählungen ihrer Kindheit. Auch Kupfer und Gold werden im Consota-Fluss gefunden, dazu Keramikteile. Vielleicht gelingt es, einen ökologisch-pädagogisch-archäologisch-anthropologischen Kulturpark aus der Taufe zu heben. Bei den Anthropologen stehen schon kleine Modelle herum, die teils abschreckend sind. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre ein Disneyland.

Die Exkursion führt mit einem kleinen Konvoi ins Caucafluss-Tal zur Hacienda El Paraíso. Hier lebte - allerdings nur für anderthalb Jahre - Jorge Isaacs, der mit seinem Roman María die nationale kolumbianische Literatur begründete. Er erzählte von einer unmöglichen, deshalb tragischen Liebe und schrieb ein Werk, das einen subtilen Rassismus nicht verhehlt. Die Hacienda gilt inzwischen als nationales Denkmal, aber Studien belegen, dass nichts so war, wie es heute arrangiert ist. Auf meine Frage während der Führung, wo denn die 90 Sklaven der Familie Isaacs gewohnt hätten, weiß die afro-kolumbianische Museumsführerin keine Antwort.

Was heißt "Neopatriotismus"?

Auf dem Rückflug nach Deutschland stelle ich fest, sehr viel gelernt zu haben. Am aufschlussreichsten aber scheinen mir die Weisheiten aus dem Wörterbuch des kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe - des sogenannten "Uribiccionario" - zu sein. Sie werden wöchentlich exklusiv in der Semana abgedruckt. Ich lerne zum Beispiel, was "Autocensura" (Selbstzensur) bedeutet: "Regierungsempfehlung an die Medien, um die Qualität der Information zu verbessern und dabei anti-patriotisches Verhalten zu vermeiden". Unter dem von Uribe eingeführten Begriff "Marco Jurídico" (Juristische Rahmenrichtlinie) hat man den Prozess zu verstehen, "mittels dessen Verbrecher verschiedener Sorte, sich in das bürgerlich-zivile Leben wieder eingliedern können" - das heißt Legalisierung von Verbrechen als Weg für die Auflösung der ultrarechten Paramilitärs.

Der geneigte Leser des Magazins erfährt auch, was hinter dem Wort "Neopatriotismus" steckt - die Umschreibung von Nepotismus nämlich und damit der Tendenz, Verwandte oder Freunde zu bevorzugen, wenn es um Posten im öffentlichen Dienst geht, sofern sie Einfluss versprechen. Dann ein Kürzel wie TCL für Tractado de Libre Comercio, einem Freihandelsabkommen, zu dem es heißt: "Vorteilhafter Handelsvertrag zwischen den Regierungen Kolumbiens und der USA, in dem die Nordamerikaner die Bedingungen stellen und die Kolumbianer das Geld". Das journalistische Lexikon schließt bezeichnenderweise mit dem Begriff "Vladdomanía", übersetzt Vampirismus, Blutsaugerei.


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