Wie eine zweite Haut

Verführbarkeit In „Dein ­Gesicht morgen“ liefert Javier Marías eine schwarze ­Satire auf die geistige Situation nach 9/11

Im Finale seiner Trilogie Dein Gesicht morgen mit dem emblematischen Untertitel Gift und Schatten und Abschied pendelt Javier Marías hintergründiger Ich-Erzähler Jaime Deza zwischen London und Madrid. Vom britischen Geheimdienst engagiert, weil er die besondere Fähigkeit besitzt, Physiognomien lesen und das Verhalten von Personen vorhersehen zu können, kommt Deza unmittelbar in Berührung mit dem Alltagsgeschäft des Secret Intelligence Service: Dem Grauen physischer Gewalt, sexueller Erniedrigung, Erpressung im Namen nationaler Sicherheit.

Deza wird zusehends Teil dieses Grauens, das wie ein tödliches Gift funktioniert: „Wir tragen es wie eine zweite Haut unter der Haut“, stellt der Ich-Erzähler fest. Am Ende quittiert er seinen Dienst bei der Sondereinheit MI (Military Intelligence) in London, kehrt nach Madrid zurück zu Frau und Kindern. Problemlos findet er Arbeit im Finanzberatungsbereich, seine „Phase beim MI“ ist da von Vorteil. Der Versuch hingegen, an das alte Leben im Familienkreis anzuknüpfen, wird von den Erfahrungen „dieser Phase“ in „blitzartigen Bildern“ nachhaltig irritiert.

Mit diesem Roman schreibt sich Marías ein in das Genre des politischen Spionagethrillers, er steht der Brillanz John le Carrés und Graham Greenes in nichts nach. Freundschaft, Loyalität und Verrat, die zentralen Themen Le Carrés, spielen auch hier eine Schlüsselrolle. Deza ist eine Figur moralischer Ambiguität, wie Le Carrés Helden, er bedroht und verletzt auf Verdacht den vermeintlichen Liebhaber seiner Frau, die nach einem seiner Besuche in Madrid ein blaues Auge davon trägt. Am liebsten würde er den Rivalen „von der Bildfläche verschwinden“ lassen. Die Subtilität, mit der Marías die Spionagegeschichte konstruiert, die die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts – vom Spanischen Bürgerkrieg über Nazideutschland und den Kalten Krieg bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, erinnert an Graham Greenes Unser Mann in Havanna aus dem Jahr 1958.

Geheime DVDs

Marías parodiert Grundstrukturen, Figuren und Erzählweisen des Genres, und er liefert eine schwarze Satire der Situation nach dem 11. September 2001. Er zeichnet ein in seiner Fiktionalität umso realistischeres Bild des Secret Intelligence Service und des Alltags in der Metropole Madrid, der Geschäftswelt, den Machenschaften des Opus Dei in der jüngsten Etappe der Globalisierung.

Mitglieder mexikanischer Entführungskartelle im Verbund mit der italienischen Mafia verüben Verbrechen mit Wissen und Billigung namhafter Vertreter der USA und Westeuropas. Über diese Vorgehen zirkulieren geheim aufgenommene DVDs. Ein gutes Dutzend davon sieht Daza als Teil der Ausbildung beim Geheimdienst.

Marías liefert auch eine schwarze Satire des kulturellen Lebens der Ära Post-Felipe-Gonzáles (der sozialdemokratische Sozialist regierte Spanien bis 1996). Die Figur des spanischen Kulturattachés in London, de la Gárza, bewegt sich zwischen Einfältigkeit, Machtgelüsten und Überheblichkeit. De la Gárza war am Schluss des zweiten Trilogie-Bandes Tanz und Traum von MI-Agenten im Beisein Dezas brutal verprügelt worden. Diese Episode ragt als Erinnerungssplitter Dezas in Gift und Schatten und Abschied hinein, steuert die Handlung und die Reflexionen des Ich-Erzählers.

Marías legt einen eminent politischen Roman vor. Ausgangspunkt und Parameter sind die Anschläge des 11 September 2001 in New York, der Irak-Krieg und die Folgen. Der Autor nimmt direkt Bezug auf Abu Ghraib, die Bilder physischer Gewalt und sexueller Erniedrigung, wenn er seine Protagonisten Deza und Oberst Tupra geheime Gewalt-DVDs sehen und sie eine Unterhaltung über die „Attentate“ in London 2005 und Madrid 2004 und New York führen lässt.

Tupra kommentiert die scharfen Reaktionen auf die im Januar 2004 veröffentlichten Bilder Abu Ghraibs abschätzig: „Jeder Idiot macht aus jedem Blödsinn ein Drama. Die Leute schlagen sich heute schon an die Brust, wenn man einer Pflanze etwas zuleide tut, ganz zu schweigen von einem Tier, oh, was für ein Verbrechen, was für ein Skandal. Sie leben in einer irrealen, verlogenen, verweichlichten Welt. Der Geist ständig in Watte gepackt. Wenn in unseren Ländern einbricht, was für anderswo normal ist, was gängige Münze ist, sind wir wehrlos und ohne Reflexe, leichte Beute, erst nach einer Weile reagieren wir, und dann tun wir es maßlos und blind und irren uns im Ziel. Mit allzu großer rückwirkender Angst.“

Rückkehr nach Oxford

Die philosophisch-ethischen Fragen, die Marías in seinem Roman stellt, machen die sterile Diskussion um den freien Willen des Individuums, um die Verführbarkeit, Manipulierbarkeit beziehungsweise um die genetische Programmierbarkeit des Menschen auf brutale Weise anschaulich. Die Ambition des Romans ist es, auf die Forderungen eines individuellen Lesers zu antworten, der indirekt die Bedürfnisse aller beschreibt. 1994 definierte Marías Fiktion so: „Sie erzählt uns oder besser sie liefert uns das Erinnerungswerte dieser Dimension, die wir im Moment des Erzählens beiseite lassen und erklärt uns, uns selbst und unser Leben“.

Marías lässt Deza an den Ort, die Handlung und Figuren seines frühen Romans Aller Seelen (1989) nach Oxford zurückkehren. Hier lebt Professor Peter Wheeler, Hispanist, Agent des britischen Geheimdienstes im Spanischen Bürgerkrieg, der während des Zweiten Weltkriegs gegen Nazideutschland kämpfte und der Deza für den Military Intelligence entdeckte.

Die Wiederbegegnung mit Oxford nimmt Marías zum Anlass – wie in Schwarzer Rücken der Zeit (1998) – über das Schreiben, das Sprechen mit den Stimmen der Toten nachzudenken. Er kombiniert das mit Angriffen auf die konventionellen Vorstellungen zur Beziehung von Autor-Erzähler, Literatur und Autobiographie, Fiktion und Wirklichkeit. Marías führt in Dein Gesicht morgen einmal mehr vor, wie die schriftstellerische Leistung gerade darin besteht, die eigene Stimme zu verlieren, um die anderen Stimmen zum Sprechen zu bringen. Dafür wird er hoffentlich bald den Nobelpreis bekommen.

Dein Gesicht morgen 3. Gift und Schatten und Abschied Javier Marías Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr und Luis Ruby. Klett-Cotta, Stuttgart 2010, 730 S., 29,90

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