Ignoranz ist heilbar

Debatte Seit Monaten liegen die Ostdeutschen öffentlich auf der Couch. Dabei sind es die Westdeutschen, die etwas ändern müssten
Ausgabe 35/2019
Schöne Grüße aus’m Osten!
Schöne Grüße aus’m Osten!

Grafik: der Freitag

Ich kann mich noch genau erinnern. Als ich verstand, dass in Deutschland wirklich Sozialismus versucht wurde. Es war 1999, neunte Klasse, ich war 15. Natürlich hatte ich vorher schon einmal davon gehört: DDR. Das war da, wo die Autobahn plötzlich so ruckelig wurde. In der Schule hatten wir die „Wende“ nie, wir kamen nur bis zum Nationalsozialismus, zeitlich. In Politik wurde Sozialismus erwähnt, „aber nun ist offensichtlich, dass das nicht funktioniert“. „Wieso?“ „Na wollten die Ossis ja auch nicht mehr. Wollten lieber Helmut Kohl!“ Wie bitte? In Deutschland gab es bis vor zehn Jahren Sozialismus? Und: Diese „Ossis“ tauschten ihn gegen Kohl?!

Das ist meine „DDR-Geschichte“. Die riesigen Umrisse meines Unwissens erkannte ich erst in den letzten Jahren – im Zuge der Wendedebatte. Oder der AfD-Debatte. Ist ja irgendwie das Gleiche, das weiß auch der Spiegel, jüngst tat er sein Wissen darüber kund. „So isser, der Ossi“, titelte das Hamburger Magazin, mit Pegida-Fischermütze. Dem Klischee stellte es in der Unterzeile die „Wahrheit“ entgegen. Die Debatte ließ nicht auf sich warten: Die einen fanden das Ossi-Klischee gekonnt gebrochen, andere jedoch fühlten sich ... nun ja. Die Vorsitzende der Thüringer Linken, Susanne Hennig-Wellsow, twitterte: „Ich möchte eigentlich schreiben, fickt euch, schreibe ich aber nicht, weil ich seriös schreibe. DAS ist pure Ignoranz von Geschichte, Menschen, Gefühlen, Politik.“ Sie fügte einen Hashtag an: #ostdeutschlandrules.

Auch ein anderer Hashtag macht die Runde: #wirimosten. Hier formiert sich eine Identität, 30 Jahre nachdem sie eigentlich angefangen haben sollte, sich aufzulösen. Nun gibt es die einen, die Ironie verstehen; die anderen, die irgendwie nicht lachen können. Letztere liegen seit Monaten auf dem Untersuchungstisch, öffentlich, ihre kollektive Psyche wird durchanalysiert, ihre Löhne ausgerechnet, ihr Abgehängten-Quotient geschätzt. Die Frage lautet nicht: „Wieso wählt ein Teil der deutschen Bevölkerung rechts?“ Sie lautet: „Wieso wählen die rechts?“ Die. Die anderen.

„Othering“ nennt man das in der Diskriminierungsforschung: eine Identität als anders herabsetzen und dabei vereinheitlichen. Kennste einen, kennste alle. Im April veröffentlichte die Soziologin Naika Foroutan eine Studie, die die Diskriminierung von Migrantinnen mit jener der Ostdeutschen verglich. Beide Gruppen sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit bedroht, in Politik und Wirtschaft unterrepräsentiert. Und: Beide gelten als „anders“. Die Journalistin Nelli Tügel – geboren in der DDR, wie ich war sie 1989 fünf Jahre alt – schrieb damals an dieser Stelle, vielleicht müsse man über den Begriff der Critical Westness nachdenken. Vielleicht müssten Westdeutsche ihre dominante Perspektive hinterfragen – und verstehen, wie sie sich von einer ostdeutschen unterscheidet.

Bei solchen Perspektivfragen hilft es manchmal, soziale Rollen umzudrehen. „Ich empfinde es auch persönlich als Fehler, dass ich mich in den neunziger Jahren nicht besonders für die deutsche Einheit interessiert habe“, sagt der Grünen-Chef häufig in diesen Tagen. Dass wir uns nicht für die Wende interessiert haben: Robert Habeck und ich dürfen so was sagen. Ich darf meine DDR-Schulanekdote auf der Titelseite hier aufschreiben; mein West-Chef wird sich nicht dolle aufregen. Über 90 Prozent der Zeitungsverlage gehören Westdeutschen. 98,3 Prozent der Führungspositionen sind westdeutsch besetzt. Wer in diesem Land wichtig ist, kann über meine Geschichte schmunzeln. Na und? Dann ist Ostdeutschland halt nicht mein „Thema“. Andersherum: Wie sieht ein Mensch aus, der sagt: „Ich habe mich nach der Wende nicht sonderlich für die Bundesrepublik interessiert“? Völlig gaga sieht der aus. Trägt bestimmt so eine dämliche Fischermütze.

Scham ist in der Identitätspolitik die Komplizin der herrschenden Identität. Die westdeutsche Identität ist die richtige, die „andere“ ist falsch, weil, hallo, Sozialismus?! Falsch und peinlich! Mandy und Nancy und Kevin, also bitte. Irgendwann geht Beschämung jedoch zu weit, zu lang. Formiert sich Widerstand. Und der Widerstand einer Identität gegen Beschämung zeigt sich als: Stolz. Wir Ostdeutschen. #ostdeutschlandrules. Faschistisch gewendet: Wir Deutschen. Die echten Deutschen.

Wie hätte der Spiegel die ironische Brechung des Klischees hinbekommen können? Gar nicht. Es funktioniert nicht, wenn eine ur-westdeutsche Instanz versucht, ein Ossi-Klischee zu brechen. Dasselbe Spiegel-Cover auf der Sächsischen Zeitung, „So isser, der Ossi“: Es hätte funktioniert. Es hätte vielleicht sogar die Wessis aufs Korn genommen; über die Ignoranz gelacht, die hinter ihren Ossi-Klischees steckt.

Ignoranz ist heilbar – wenn man sie erkennt. Das passiert aber nicht durch den hundertsten Ostsafari-Text; nicht durch westdeutsches Reden und Schreiben über „Ostdeutsche; die“. Sondern wenn man mal kurz die Luft anhält, um zuzuhören.

Meine DDR-Anekdote aus dem Schulunterricht habe ich letztens bei uns erzählt, auf dem Hoffest unseres Mietshauses in Berlin-Neukölln. „Witzig, oder?“ Einer lachte nicht. Mein Nachbar unter mir, seit 13 Jahren wohne ich über ihm und wusste kaum etwas über ihn, mein Nachbar schaute mich mit diesem Blick an. Irgendwie ausdruckslos. „Mit 15“, sagt er und nimmt seine Brille ab, um sie mit einem Zipfel seines T-Shirts zu putzen, „mit 15 bin ich aus der DDR geflohen. Im Kofferraum.“

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