Dieses Urteil sei unabhängig von der politischen Dimension des Prozesses gefällt worden, zitieren Prozessbeobachter die Richterin der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Chemnitz in ihrer Urteilsbegründung. Der Satz markiert schon das ganze Problem. Auch die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) sagte ihn: „Die Justiz ist unabhängig.“ Natürlich ist sie das, sie ist es qua Grundgesetz. Wenn die Unabhängigkeit der Justiz nicht in Frage gestellt wäre, würde niemand diesen Satz sagen. Er bedeutet: Hier stimmt etwas nicht.
Was nicht stimmt, war vor einem Jahr in Chemnitz zu erleben. Damals formierte sich ein rechter Mob, der den Mord an dem 35-jährigen Daniel H. in Chemnitz für rassistische Hetzjagden instrumentalisierte. Dieser Mob treibt noch heute, so die Befürchtung angesichts des für die extrem dünne Beweislage extrem harten Urteils, auch Politik und Justiz vor sich her.
Neuneinhalb Jahre Haft wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung: Dass es sich hier um ein juristisch äußerst fragwürdiges Urteil handeln könnte, dafür sprechen einige Indizien. Der Schuldspruch erfolgte ohne harte, objektive Beweise. Es wurden keinerlei Spuren des Opfers, wie zum Beispiel Blut, am Tatverdächtigen gefunden. Auch andersherum fanden sich keine Spuren des Verurteilten am Tatmesser, keine Kratzer oder blauen Flecke wiesen auf eine körperliche Auseinandersetzung hin. Ohne Beweise gilt die Unschuldsvermutung.
Dann war da dieser Zeuge der Staatsanwaltschaft Chemnitz aus dem Imbiss, 50 Meter vom Tatort entfernt. Der sagte aus, gesehen zu haben, wie Alaa S. zustach. Journalisten, die den Prozess begleiteten, berichten von widersprüchlichen Aussagen. Erst habe er das Zustechen beobachtet, dann nur eine schlagende Bewegung. Sie berichten von Erinnerungslücken des Zeugen. „Keine Zweifel“ gebe es an der Schuld des Anklagten, sagte jedoch die Richterin.
Lauter Zugeständnisse an die Rechte
Der Verdacht, dass sich die Justiz hier aus Angst vor der Reaktion des Chemnitzer Neonazi-Mobs auf eine mildere Strafe gehandelt hat, besteht aber nicht erst seit Donnerstag. Schon dass der Prozess überhaupt in Sachsen stattfand, obwohl das rechte Drohszenario die Befangenheit der Justiz nahe legte, war ein Zugeständnis an die Neonazis. Schon dass das Urteil unbedingt noch vor den sächsischen Landtagswahlen am 1. September ergehen musste, war ein Zugeständnis an die Rechte. Und auch aus der Aussage der Chemnitzer Oberbürgermeisterin Ludwig, ein Freispruch wäre „schwierig“ für Chemnitz, sprach die Angst, die Jagdszenen des August 2018 könnten sich in ihrer Stadt wiederholen – nicht nur mit verheerenden Folgen für den Ruf der Stadt (die Unternehmen! Die Touristen! Die Kulturszene!). Bundespolitisch hatte die Auseinandersetzung mit den Neonazis von Chemnitz zur Folge, dass die Große Koalition beinahe auseinanderbrach. Dass Hans-Georg Maaßen seinen Posten als Verfassungsschutzpräsident räumen musste. Dass Andrea Nahles, die erst durch Kevin Kühnert auf die Notwendigkeit dieser Amtsenthebung aufmerksam gemacht werden musste, als SPD-Vorsitzende angezählt war.
Juristisch ist mit dem Richterinnenspruch recht einfach umzugehen: Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und kann vor dem Bundesgerichtshof angefochten werden. Die Verteidigerin von hat bereits Alaa S. angekündigt, diesen Schritt zu gehen.
Die politischen Folgen dieses politischen Urteils sind weitreichend. Sie zeigen, wie schnell eine Demokratie mit dem Rücken zur Wand steht, die bei jedem Angriff von rechts einen Schritt zurückweicht. In Chemnitz wüten Neonazis? Geben wir ihnen ein hartes Urteil, vielleicht beruhigen sie sich dann. Bei der Wahl wüten AfD-Wähler? Verschärfen wir die Asylgesetze, vielleicht beruhigen sie sich dann. Neonazis sagen, man nimmt sie gar nicht ernst? Laden wir sie auf Podiumsveranstaltungen ein und lassen sie reden! Nichts anderes tat der MRD, als er Arthur Österle, ehemals bei Pro Chemnitz und jetzt bei der AfD, zur Vorabpremiere der Doku „Chemnitz – Ein Jahr danach“ einlud. Das Podium musste der Sender nach Protesten absagen. Stattdessen lud er zur Publikumsdiskussion – bei der Österle am Donnerstag das letzte Wort hatte. „Mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden“, fasste er den Abend zusammen. Aus "mit besorgten Bürgern reden" wurde erst "mit Rechten reden", dann "mit Neonazis reden". Mindestens ein Zugeständnis zuviel.
Wer vor dem Mob kuscht, füttert ihn
Denn wenn ein Mob einmal anfängt zu wüten, gibt er sich nicht mit Zugeständnissen zufrieden. Jedes Opfer feuert seine Hetzlust nur weiter an. Jeden Raum, der ihm gegeben wird, nutzt er zur Ausbreitung. Neuneinhalb Jahre Freiheitsentzug für den "Totschläger"? Pro Chemnitz ruft für Sonntag zum Protest: Lebenslänglich für den „Mörder“! Obergrenzen? Die AfD fordert: Grenzen dicht! Ein Mensch mit Migrationshintergrund, eine Antifa, ein Homosexueller wird geschlagen? Nein, schlagt sie alle tot! „Knüppelt sie nieder! Schlagt sie tot!“, rief ein Demonstrant in Chemnitz, als die Polizei antifaschistische Blockierer aus dem Weg schieben wollte. Kein Ordner maßregelte ihn – verantwortlich für die Ordner: Arthur Österle.
Wer vor dem Mob kuscht, füttert ihn. Zum Glück hat das ein Großteil der Parteien 2018 begriffen, und vermutlich war Chemnitz dafür nicht unwichtig: Der Schulterschluss nicht nur von Björn Höcke, sondern auch von den brandenburger und sächsischen Spitzenkandidaten Andreas Kalbitz und Jörg Urban hat auch den letzten AfD-Verstehern vor Augen geführt, mit wem man es hier – in der Partei, nicht zwingend in der gesamten Wählerschaft – zu tun hat. Die SPD hat mit dem Kuschen vor dem Mob in dem Moment aufgehört, als Kühnert durchsetzte, dass Maaßen gehen muss. Chemnitz markierte eine Wende. Das jetzt verkündete Urteil ist ein Gruß aus der Vergangenheit, der daran erinnert, was im Umgang mit dem Rechtsruck schief gelaufen ist.
Inzwischen werden andere Töne angeschlagen. Ingo Senftleben in Brandenburg und Michael Kretschmer in Sachsen haben einer Regierung unter AfD-Beteiligung eine klare Absage erteilt. Was den Weg sogar für die CDU zwangsweise öffnete, über neue politische Projekte nachzudenken: Vielleicht gemeinsam mit den Linken? Und den Grünen? Ein Jahr nach Chemnitz ist Grün-Rot-Rot auf Bundesebene nicht mehr mit einer Welle ideologischer Abwehr konfrontiert, nicht mehr mit purer Angst, wie der Mob darauf reagieren könnte, sondern mit der Frage, wie eine grün-rot-rote Politik denn aussehen könnte. Kurz vor den Wahlen im Osten präsentiert sogar die aus dem letzten Loch pfeifende Bundes-SPD Pläne für eine Vermögenssteuer, statt über Asylpolitik zu lamentieren. Und siehe da, es besteht die Möglichkeit, dass die AfD in beiden Bundesländern doch nicht stärkste Kraft wird – vielleicht. Nach jüngsten Umfragen könnten die SPD in Brandenburg und die CDU in Sachsen die AfD schlagen. Es kommt nun darauf an, nicht den Mut zu verlieren. Selbst wenn der Mob am Sonntag wieder loszieht.
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