Zweihundertneunundfünzigtausend

Thüringen Die Politik ist sich einig: Gegen die AfD hilft nur „klare Kante“. Schön und gut, aber wie soll man im Alltag mit den Wählern einer rechtsextremen Partei umgehen?
Für 259.359 Menschen war das augenscheinlich kein Problem
Für 259.359 Menschen war das augenscheinlich kein Problem

Foto: Christof Stache/AFP/Getty Images

Und es geht wieder los: 23,4 Prozent für die AfD unter dem Faschisten Björn Höcke – sind dessen Wähler jetzt alle Nazis? Oder doch Leute, die ihre eigenen sozialen Interessen nicht (mehr?) bei der Linken, der SPD oder der CDU vertreten sehen – und daher in die AfD flüchten? In den Hauptrollen der Debatte – Überraschung! –: Sahra Wagenknecht und Jutta Ditfurth. Erstere erklärte bei Anne Will, dass es möglicherweise auch Rassisten gebe unter den AfD-Wählern, aber es sich im Kern doch um eine Folge der zunehmenden sozialen Ungleichheit handele. Letztere fasste die politische Verfasstheit der AfD-Wähler auf Twitter so zusammen: „24 % der thüringischen Wähler*innen sind Nazis. Sie wollen: dass es ihnen auf Kosten anderer Menschen besser geht; ihren Rassismus + Judenhass hinausschreien; sie wollen deutsche weiße Frauen zwingen, jede Schwangerschaft auszutragen und Lohnarbeitende entrechten.“

Keine Sorge, ich will diese Debatte nicht bis ins Endlose fortführen. Mir reicht zwei Jahre im-Kreis-Drehen völlig aus. Ich glaube, dass sich die Frage, wie rechts die AfD-Wählerschaft in Thüringen tatsächlich ist, nicht mehr stellt. Wer einen Björn Höcke wählt, der wählt einen Faschisten. Und selbst wenn man die AfD nicht wegen, sondern trotz Höcke wählt, wählt man einen Faschisten – vielleicht mit ein wenig mehr Bedenken als andere.

Ich befürchte, die Frage lautet nicht, ob AfD-Wähler Rassisten sind oder ob sie aus sozialer Verunsicherung, Kränkung durch Wendeerfahrung oder faschistischen Tendenzen heraus wählen. Ich befürchte, es ist viel schlimmer. Ich befürchte, es ist beides. Die zunehmende soziale Ungleichheit, die Polarisierung der Gesellschaft, der verheerende Umgang mit der Wende und viele andere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen haben dazu geführt, dass Rassisten AfD wählen und die AfD zum Sammelbecken für Faschisten, Rassisten, Sexisten und gemäßigtere Rechte wird. Ich befürchte, AfD-Wähler sind einfach beides: Menschen, also soziale Wesen mit legitimen sozialen Interessen. Und potenzielle Faschisten.

Denn das Problem sind ja nicht die 23,4 Prozent. Mit 23,4 Prozent für die AfD kann eine parlamentarische Demokratie umgehen. Vielleicht ist es nicht leicht, aber es geht. Eine rot-rot-grüne Minderheitenregierung mit Tolerierung durch die FDP ist möglich. Vielleicht ist sogar eine schwarz-rote Koalition denkbar – irgendwann. Nirgendwo steht geschrieben, dass eine Regierungskoalition „fest“ oder „stabil“ sein muss, und wie Tom Strohschneider und andere bereits feststellten: Ein Parlament, das gemeinsam über politische Sachfragen entscheiden muss, kann sogar demokratischer sein als eine GroKo-Starre.

Die AfD aus einer Regierung herauszuhalten ist einfach. Und glücklicherweise sind sich alle demokratischen Parteien darin einig, dass dies auch unbedingt notwendig ist. Denn einen Politiker, der laut Gerichtsurteil als Faschist bezeichnet werden darf, in die Regierung zu holen – da haben dann doch alle noch zu sehr die Worte Joseph Goebbels im Kopf, an die jüngst Moshe Zimmermann und Shimon Stein erinnerten: „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre Sache (…) Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. (…) Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“

Sie sind mitten in der Gesellschaft

Die AfD muss aus der Regierung herausgehalten werden. Und das wird sie. So wehrhaft ist die Demokratie. Das Problem sind daher nicht die 23,4 Prozent, die über dem blauen Balken da stehen. Das Problem sind die 259.359 Menschen, die dieser Balken eigentlich repräsentiert. Das sind so viele Menschen, wie Braunschweig Einwohner hat. Oder Chemnitz. Das Leben dieser Menschen erschöpft sich nicht darin, politisch extrem rechts eingestellt zu sein. Diese Menschen tun in ihrem Leben allerhand. Beispielsweise erziehen sie Kinder, ihre eigenen, oder die von anderen, in Kitas. Oder sie lehren, in Schulen, an Universitäten. Oder sie pflegen, Kranke und alte Menschen oder Menschen mit Behinderung. Oder sie arbeiten mit Gefangenen. Oder sie richten. Oder verteidigen. Oder trainieren, die Kinder im Fußball, im Bogenschießen, im Volleyball. Sie kommen auch zu Festen. Sie reden beim Bäcker mit Nachbarn. Sie backen die Kuchen für Schulfeste.

Es ist so einfach, auf die Wahlkarte, auf die Balken zu schauen und zu rufen: Rassisten! Faschisten! Was tut man mit denen? Klare Kante zeigen! Ausschließen! Klar, ausschließen will man sie. Aus der Regierung. Aber auch: aus den Talkshows. Man will das nicht hören. Und man will das nicht legitimieren. Zurecht.

Aus der thüringischen Gesellschaft aber kann man diese 259.359 Menschen nicht ausschließen. Man kann nicht, wie die Rechte, sagen: Lasst sie nicht rein. Man kann nicht, wie vielleicht manch arrogante Westdeutsche, sagen: Zieht die Mauer einfach wieder hoch. Sie sind mitten drin, mitten in der Gesellschaft. Eben nicht am Rand. Wie geht man mit diesen Menschen um? Nimmt man seinen Sohn aus dem Sportverein mit dem rechten Trainer? Redet man mit dem Fascho-Nachbarn nicht mehr beim Bäcker? Sagt man der Tochter: Hör nicht auf deine Lehrerin, die wählt AfD? Isst man den vom AfD-Wähler gebackenen Kuchen, lobt man ihn für die Saftigkeit, holt man sich das Rezept? Klare Kante zeigen. Okay. Vielleicht sollten wir mehr darüber reden, wie man eigentlich mit Rechten redet. Und zwar nicht mit den Björn Höckes. Sondern mit den Menschen um uns herum. Und diese Frage stellt sich für People of Colour natürlich ganz anders als für Weiße.

Ich verstehe jetzt, warum wir uns so angeschrien haben die letzten zwei Jahre, innerhalb der gesellschaftlichen Linken, als es um den Umgang mit Rechten ging. Weil wir genau das nicht verstehen wollten. Dass es nicht entweder normale Menschen mit auch berechtigten Sorgen gibt – oder Faschisten. Sondern beides. Schon immer.

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