Mit seiner emphatischen Freiheitsrhetorik erinnert der Bundespräsident in spe an die fünfziger Jahre: Joachim Gauck pflegt einen nostalgisch stimmenden Traditionalismus, der aber, sagte Gauck in seinem Gespräch mit der Linken, keinesfalls „rechtskonservativ“ sei. Was sich erst wie doppelter Moppel anhört, anerkennt eine augenfällige Entwicklung: im Parlament gibt es nur noch konservative Parteien (spätestens seit die SPD die neoliberalistische Beule, die Schröder ihr geschlagen hatte, wieder auszudellen versucht).
In dem, was sie konservieren wollen, unterscheiden sich die Parteien natürlich. Und eben das war seit je das Problem des Konservatismus. Haben die Ökologiebewegten zunächst nur das Problem, dass die Natur, die sie erhalten wollen, nicht von Natur aus feststeht, sondern kulturell zu entscheiden ist, steckt der gesellschaftliche Konservatismus obendrein im Dilemma, dass weder von Natur noch von Kultur aus feststeht, was immer er politisch, sozial und kulturell gerade konservieren will. Russell Kirk, der Stammvater des amerikanischen Nachkriegskonservatismus, hatte als Grundkonstanten festgelegt: Glaube an eine göttliche Absicht, Liebe zum „Geheimnis des Lebens“, Überzeugung von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Rangordnung, Zusammengehörigkeit von Eigentum und Freiheit, Vertrauen in überliefertes Recht und Einsicht in die verheerenden Wirkungen von Neuerungen.
Entschleunigend
Aber das hielt den Konservatismus, zu dessen Grundansprüchen die individuelle Freiheit gehört, noch nie davon ab, in heillose Abhängigkeit von dem zu geraten, was er nicht wollte – Aufklärung, Revolution, Industrialisierung, Demokratisierung, Massengesellschaft, Sozialkonsumismus und so fort. Er bleibt der nachgeborene Bruder, der seiner größeren Schwester, der Modernisierung, stets hinterherläuft. Er sehnt sich nach anthropologischer Konstanz, nach überzeitlichen Kernen, nach organischer Ordnung in Staat, Religion und Familie. Aber diese ändern sich, und er kann sie nicht festhalten. Immer wieder muss er hinter mächtigere Bewegungen zurücktreten, um sich diesen mit Verzögerung anzuverwandeln. Dabei setzt er stets neue Konkurrenten frei: Traditionalisten, Reaktionäre, Völkische, Fundamentalisten, Populisten. Wenn es denn ein Essenzielles des Konservatismus gibt, ist das sein prinzipielles Zeitverhältnis: das reaktiv Verzögernde und aufhaltend Entschleunigende, bis zur – wunschhaften – Umkehrung. Noch mehr aber ist dem Konservatismus ein hochsensibles, idiosynkratisches Gespür für tiefergreifende Veränderungen, für ihre Träger und Folgen eigen.
Während sich in der stets auftauchenden Diskrepanz von Realität und Projektionen für Progressive die Realität zu blamieren pflegt, blamieren sich für Konversative deren Wünsche an der Gewalt der Realität. Konservative haben eine besonders hohe Sensibilität für das Mächtige und Autoritative der Macht und das Entlastende von Gegebenheiten. Arthur Moeller van den Bruck hat das nach dem selbstverschuldeten Untergang aller konservativen Werte im Ausgang des Ersten Weltkriegs erkannt und revolutionär zu wenden unternommen: Das zu Erhaltende sei „ursprünglich ein zu Erringendes“ gewesen. Dass also wahrhaft „konservativ ist, Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt“.
Mundwerksburschen
Von daher konnte Jürgen Habermas in den Fünfzigern dem Konservatismus genüsslich vorhalten, dass er nicht einmal dazu mehr die Kraft habe, sondern (höchstes intellektuelles Schimpfwort damals) ein „Konformismus“ sei. In der sogenannten Adenauerzeit – ein Begriff, der verdeckt, wie heterogen gerade in den Anfängen der Bundesrepublik die politische Rechte war –, konstatierte man daher zunächst erleichtert, zunehmend aber besorgt, eine konservative Grundtendenz der gesamten Gesellschaft. Man befürchtete, der „genuine“ Konservatismus verliere darin seine Kontur, denn auf dem Sockel des relativ breiten Wohlstands breiteten sich liberal-hedonistische Positionen leicht aus. In diesem Klima gab der politisch regierende Konservatismus den rechten Rand frei, der von der 1964 gegründeten NPD besetzt wurde. Die sozialliberale Koalition 1969 markierte sichtbar das Ende der bis dahin erfolgreichen konservativen Adaptionspolitik, in der prägnant konservative Positionen längst erodiert waren.
Mit der Wiedergewinnung eines inneren Feindbildes in Gestalt der intellektuellen „Mundwerksburschen“ (Arnold Gehlen) und der APO wurden konservative Positionen noch einmal stimuliert. Aber das Dilemma zeigte sich neuerlich, als Gerd-Klaus Kaltenbrunner 1975 zwischen einem Konservatismus des Temperaments und einem der „dezidierten geistig-politischen Stellungnahme“ unterschied, zu dem für ihn nun gehörte, das ökologische Feld zu besetzen. Auch dieser Versuch verwässerte.
Martin Greiffenhagens Gewissheit von 1986, dass der deutsche Konservatismus „objektiv an sein Ende gekommen sei“, schien allerdings in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung jäh widerlegt. Weniger durch die publizistischen Versuche, Sozialdemokratie und Achtundsechziger als unvaterländische Teilungseinverständige auszustoßen als mehr durch die im Realsozialismus gedeckelten und nun freigesetzten nationalistischen, elitistischen oder nationalrevolutionären Potenziale, von rassistischen und neonazistischen ganz zu schweigen.
Das Gewicht der Wirklichkeit
Die seither mal zustimmend, mal besorgt festgestellte Sozialdemokratisierung des bürgerlichen Lagers gab der Greiffenhagenschen Feststellung gleichwohl nicht recht. Im Gegenteil: Man könnte von einer erfolgreichen Ausweitung des Konservatismus sprechen, dem Sozialstaatsanhänger und Ökologiebewegte fast geschlossen beigetreten sind. Man denke an die Allgegenwärtigkeit des Gefühls- und Normativitätskonservatismus in den gedankenpolizeilichen Verregelungen der Political Correctness und das Stilpolizeiliche des Ökologismus.
Seit die konservative Revolution die Herstellung von Verhältnissen postulierte, die wert wären, tradiert zu werden, hat der programmatische Konservatismus ein Stigma: Die zwangsläufige Instrumentalisierung der vermeintlichen Substanzialitäten von Nation, Religion, Familie zur Erreichung des strategischen Ziels der Macht. Daraus entsteht sein machiavellistisches Dilemma: Werden die angeblich überzeitlichen Substantialitäten, die er behauptet, nurmehr zum taktischen Mittel von Machtgewinn und (Neu-)Ordnung, dann binden sie letztlich das konservative Milieu, das noch an sie glaubt, durch Trug.
Der kürzlich verstorbene Christopher Hitchen hat das für die USA diagnostiziert: „Die Religion ist seit jeher ein Mittel der Kontrolle. Manche von denen, welche uns die Religion empfehlen – ich denke hier an die Schule von Leo Strauss –, haben genug zynische Offenheit, das ausdrücklich hervorzuheben: Die ganze Religion mag mythischer Zinnober sein, aber sie ist sehr nützlich, um die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten.“
Aufklärung über sich selbst
Das zeigt schon der Zuschnitt von Büchern, mit denen Konservatismus als Marke bespielt wird, wahlweise mit dem Akzent auf einem Prinzipienstaat wie bei Roland Koch oder erneuerter Bürgerlichkeit wie bei Wolfram Weimer. Das zeigt sich noch deutlicher in den Aufrufen zu einer deutschen Tea-Party-Bewegung. Der FAZ-Redakteur Lorenz Jäger, in der Vergangenheit nicht ohne Affinitäten zum Konservatismus im Umfeld der Jungen Freiheit, hat in seiner bemerkenswerten Absage an einen „Pseudokonservativismus“ der „Kriegsverkäufer“ einmal mehr das Essenzielle zu fassen versucht: „Genuin konservativ zu sein würde vor allem zweierlei bedeuten: ein Gefühl für das Gewicht der Wirklichkeit zu haben; daraus folgt von selbst eine Mäßigung. Und – nicht weniger wichtig – jedenfalls die Sehnsucht nach Maßstäben, die von oben kommen, vielleicht von Gott.“
Anders und mit dem Publizisten Benno Reifenberg (1942) gesagt: „Wahre Ordnung kann nicht statuiert, sie muss aufgesucht werden.“ Was bleibt, ist ein Konservatismus der Dezision und des Kalküls. Aber auch dafür gilt, dass es gute und schlechtere Überlegungen wie triftigere und weniger triftige Entscheidungen gibt. Das bindet den Konservatismus zurück an jene Tradition, der er einmal ent- und hinterhersprang: Aufklärung – auch über sich selbst. Gauck sei die Probe darauf.
Perspektiven konservativen Denkens. Deutschland und die Vereinigten Staaten nach 1945Peter Uwe Hohendahl/Erhard Schütz (Hg.) Peter Lang 2012, 362 S., 74
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