Eine Zeitreise via Geschichtsbücher

Sachlich richtig Vom Nachlass Strindbergs über die Rußlandsfeldzüge Napoleons und die 68-er in der BRD bis zur Solingener Scherengeschichte

Und ehrfurchtsvoll zu memorieren: August Strindberg, der einmal die Urgroßeltern mit seinen Stücken in Rage versetzte, hat am 14. Mai sein 100. Todesjubiläum. Sagt man das so? Jedenfalls wird man inzwischen den allermeisten er­klären müssen, wer Strindberg war. Aber selbst auf die, die ihn noch von gelegentlichen Aufführungen oder dem noch immer beeindruckenden Roman Das rote Zimmer her schätzen, dürfte das, was da nun von ihm erschienen ist, eher befremdlich wirken. Andererseits sind Blicke durchs Küchen- oder Hobbykellerfenster oft erhellend. Was hier vorliegt, sind Auszüge aus 69 Kisten voller Schnipsel seines Nachlasses. Manches liegt schlichterdings jenseits von Verständlichkeit. Vieles trägt einen geradezu zwanghaften Hang zum Paradoxen, nämlich des – auf ­Dauer erwartbaren – Gegenteils des Erwartbaren. („Wen man liebt, den hasst man.“). „Ein Prasser liebt verfaulten Käse, der nach Fußschweiß riecht, und Sauerkraut, das nach Exkrementen stinkt.“ Oder Mini-Dramen wie dies: Ein Mann ohne Gedächtnis verliebt sich noch einmal in seine Frau. Dann erwacht die Erinnerung… Dazu kommen naturwissenschaftliche Studien und Spekulationen, vor allem übers Auge und das ­Sehen. Auch darin ist einiges Ab­gefahrene wie Oberboshafte. ­Bemerkenswert! Das passt gar nicht schlecht zu uns, dieser Geist, der sich irrlichternd selbst heimleuchtet.

Die beiden Mächtigen der beiden größten Mächte stehen sich monatelang wie zwei aufgeplusterte Großmäuler gegenüber. So lange, bis sie nicht mehr zurück können. Und der eine will nur eins: vorwärts. Nämlich nach Moskau, den Zaren gefügig zu machen. Doch als Napoleon dort ankommt, weiß er eigentlich nicht so recht, was tun, außer im Kreml sein Feldbett aufstellen. Moskau brennt. Und der Rückzug wird zur Katastrophe. Erst gut hundert Jahre später, an der Somme, gab es wieder so viele Tote. Am Ende waren es 400.000 auf jeder Seite – mal die Zivilisten nicht mitgezählt, weil man sie eben nicht zählte. Der Russlandfeldzug von 1812 hat dieses Jahr Geburts- wie Todesjubiläum. Das Buch des englischen Historikers Adam Zamoyski benötigte einen solchen Anlaß gar nicht. Es ist zwar nicht Krieg und Frieden – Marschall Kutusow, Tolstois Gotteswerkzeug, ist bei Adam Zamoyski eher ein inkompetenter Dummsack –, aber es ist gewiss das Fulminanteste, was man aus der Historik dazu lesen kann. Einmal, weil Zamoyski sich von früherem Ideologenballast fern hält. Vor allem aber, weil er in Gänsehaut erregender Weise immer wieder die Opfer des Irrsinns selbst zu Worte kommen lässt.

Ohne Jubiläum, aber neu startet das Kursbuch. Dazu gibt es einen passenden, durch 990 Endnoten bewehrten wissenschaftlichen Rückblick. Den Eindruck Siegfried Kracauers von der Arbeit eines jüngeren Historikers über die miterlebte Weimarer Republik kann man als Zeitmitläufer der 68er-Jahre auch hier haben: Alles stimmt, nichts hat sich so zugetragen. Das liegt indes weniger an der ihrem Gegenstand leider stilistisch nur bedingt gewachsenen Präsentation, sondern zum einen daran, daß Henning Marmulla Vorgänge ausgrub, an denen damals nur wenige teilhatten. Zum anderen entpuppt er sich als ein ziemlich gewiefter Interpret, der mit den interessierten Selbstüberlieferungen oft nicht konform geht. Seine Darstellung über die Geschichte des Enzensbergerschen Kursbuchs, das legendär zu nennen fast schon untertrieben ist, weitet sich zudem aus zu einer kompakten Ideen­geschichte der bundesrepublikanischen Siebzigerjahre, nebst Vorlauf- wie Nachlaufzeiten. Für unsereinen, der ehrfurchtsvoll am Rande und bei dem das Kursbuch plakativ im Regal stand, öfters harter Tobak. Aber es ist auch ein erinnerungserweiternder Stoff!

Die Schere, die Daumen- und anderen Lutschern gefährlich werden kann, und sich immer weiter zwischen Arm und Reich öffnet, hat kein Jubiläum, aber stattdessen ohne Zweifel eine Geschichte. Ob diese zu erforschen zwingender ist, als die von abgeschnittenen Locken, muß das Ergebnis bewähren. Nun, es gibt sie, diese Geschichte, deren Beginn mal wieder bei den Babyloniern gemutmaßt wird – und zugleich eine Systematik. Das ist das Schönste : Die beiden großen Stämme der Bügelschere und der Gelenkschere können nach ihren Untergruppen – etwa Chirurgenschere, Lichtputzschere, elegante Storchenschere, aparte Gekreuzigtenschere oder niedliche Handarbeitsschere – ebenso erfasst werden, wie die mit ihnen Befassten: also von den nahezu ausgestorbenen, nicht gut beleumdeten Scherenschleifern bis zu den Fabrikanten des Kaltformverfahrens. Wo? In einem scherenprallen, scherenprächtigen Katalogband des Industriemuseums Solingen. Wen’s schert, der wird beschert!

1812. Napoleons Feldzug in RußlandAdam Zamoyski München, C. H. Beck 2012, 29,95

Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68Henning Marmulla Berlin, Matthes und Seitz 2011, 29,90

Notizen eines Zweiflers. Schriften aus dem NachlassAugust Strindberg

Berlin, Berenberg 2011, 320 S., 25

Die Geschichte der Schere LVR-Industriemuseum (Hg.) Essen, klartext 2011, 29,90

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