Helles Licht

Nichtprovinzielle Heimaterforschung Christof Hamanns Debütroman "Seegefrörne"

Das ist die Seegemeinde. Der Gestank von ranzigem Fett und Hundescheiße." Ach je, die ewige Provinzkritik: Feste, Hochzeiten, Gespräche beim Frisör, möblierte Wirtinnen. Doch halt! So grantig geht Christof Hamann in seinem Debütroman gar nicht mit der Seegemeinde um, wenn er ihr Höfe als Chronisten an den Hals schickt, einen nicht mehr jungen Menschen von auswärts, der seine Aufgabe sehr genau nimmt. Zu genau, wie der Bürgermeister, der ihn bestallt hat, bald aus seinem "im Sonnenstudio gereiften Gesicht" heraus meint. Der wäre höchst zufrieden, konzentrierte sich Höfe auf jenes seltene Naturschauspiel, das 1963 zuletzt zu erleben war, der zugefrorene Bodensee, die titulierende Seegfrörne, "dieses großartige Naturereignis, das ein helles Licht auf die Gemeinde werfe". Als Höfe ankommt und anfängt gibt es freilich gerade ein anderes Naturereignis, eine Überschwemmung, die den obigen Gestank begünstigt. Das wird doch etwas zu bedeuten haben? Ja, der Herr Lehrer, verweist immer wieder vorbildlich mahnend auf Wilhelm Schäfer, der seinerzeit - Wann wohl, wenn er 1952 starb? Das Literaturlexikon nennt ihn einen Vorschubleister -, ein vorbildlicher geistiger Dammbauer gewesen sei. Dämme müsse die Literatur bauen. Der Chronist ist folglich eher an Aufweichung interessiert. Hartnäckig hält er sich an einen Vorfall bei der letzten Gfrörne, der damals die Zeitungen lange beschäftigte, das Verschwinden des jungen Robert Teiler. Eine "traurige Geschichte" heißt es dort das gesamte Buch hindurch immer wieder. Mehr will man dazu nicht sagen, nichts mehr wissen. Und so muss es kommen: Höfe forscht Robert Teiler nach. Ist er im Leichtsinn ins Eis eingebrochen? Umgebracht worden? Gar in die weite, bessere Welt verschwunden? Oder tatsächlich "Terrorischd gworre und hot Leut abgmurkst"? Höfe tut, was man dazu so tut: Er liest nach, identifiziert sich, tagträumt, interviewt, besucht und fährt herum. Er konsumiert moderne Mythenmuster, indem er vorm Fernseher sitzt, amerikanische Western und deutsche Heimatfilme sieht; er recherchiert zum Reiter über den Bodensee, lyrisch und quellenkundlich. Er erlebt die stille Post und klagt über die Mauer des Schweigens, befragt Zeitungsausschnitte und sein eigenes Gemüt. Kurz, er absolviert alle Facetten der Gedächtniskultur, alle Rituale zwischen Erinnern, Fehlerinnern, Umformen, Vergessen, Verdrängen, Beschweigen, Durcharbeiten und so fort. Was eine ziemliche Mühe ist, wo nicht einmal der Name vom Jägerstüble gewiß und Uhlands Reiter in mehr als einer Reimvariante über den Bodensee gesetzt scheint. Am Ende ist´s ein raffiniertes Feature geworden und man weiß so ziemlich alles zwischen Naturgeschichte, Quadratmeterzahl, Sagen und individuellem Schicksal, was man über die Seegemeinde nur irgend wissen kann. Zwischen Heimatkunde und Provinzkritik, eine "Wahrheit, die zum Bodensee passe".
Was entscheidend ist: Das alles ist wohldosiert, ökonomisch schlank, mit unaufdringlichem Raffinesse erzählt, mit sensibler Sprache zwischen Zeitung, Dichtung und Dialekt. Und da es um Heimatkunde und Provinzkritik sich handelt, sind auch zwei literarische Paten zur Stelle, nicht die schlechtesten, im Gespann freilich apart: Martin Walser und - mehr noch - Thomas Bernhard. Bernhardinisch ist nicht nur die Provinzkritik, sondern auch der ausgiebig geübte Konjunktiv wie die gern genommene Rhetorik der Wiederholung. "Es gehe nichts über einen Unterricht, der den Schülern die Heimat nahebringt. Damals sei Sachkunde noch Heimatkunde gewesen. Die Geschichte des Bodensees rauf und runter beten. Und immer wieder die Dichter." Der Chronist, im Bunde mit der Sachprosa und ohne Einflussangst vorm Großsuadler liefert seinem Autor derart einen Roman, der einen eigenen Reiz hat, dem man sich zunehmend schwerer entziehen kann. Am Ende hat man ein Exerzitium nichtprovinzieller Heimaterforschung absolviert, das für zukünftige Literaturkurse der Oberschule ebenso geeignet ist wie als Sinnierbrevier des Bodenseetouristen in - sagen wir es rund heraus - Überlingen. Indes darf ein Mangel nicht verschwiegen werden. Jenes Thema kommt etwas kurz, woran sich Provinz, Erinnerung und Literatur doch immer wieder regenerieren: Einmal wird Höfe durch einen Autounfall dafür bestraft, dass er tagträumt, seiner Begleiterin ans Knie zu fassen. Dann scheitert die sinnliche Attacke seiner ältlichen Wirtin an einer umgestoßenen Sektflasche. Das war´s auch schon. "Das Gegenteil von Vergessen sei Gerechtigkeit". Ist das gerecht?

Christof Hamann: Seegfrörne. Roman. Steidl-Verlag, Göttingen 2001, 184 S., 16,50 EUR


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