Leidensdarsteller

Stimmungslage Florian Illies hat ein Buch über die geistige Welt des Jahres 1913 geschrieben. Intellektuelle von Freud bis Rilke inszenierten ihr Leid

Hitler und Stalin, die nicht einmal bei ihrem teuflischen Pakt zusammentrafen, sind sich wahrscheinlich früher unerkannt begegnet: 1913 in Wien, wo Stalin als Stavros Papadopoulos sich versteckte und Hitler in den Parks herumlungerte. Das entnimmt man Florian Illies‘ Buch 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Querschnitt durch ein Jahr, chronologisch in der Folge der Monate immerhin. Das Verfahren des Querschnitts ist nicht neu, Illies selbst hat es in den legendären Berliner Seiten der FAZ, deren Chef er war, um die Jahrtausendwende oft erprobt. Hans Ulrich Gumbrecht hat sich so ans Jahr 1926 herangemacht, die Marbacher Archivisten haben es für 1955 unternommen. Doch ist dies hier anders.

Zunächst einmal das Jahr: Auf den ersten Blick ist es der Willkür des Jubilatorischen entsprungen. Auf den zweiten aber ist es das Jahr, das die Titanic hinter sich hat – es gibt bereits Postkarten vom Untergang und Max Beckmann malt gerade daran – und den Ersten Weltkrieg noch vor sich. Ahnungslos. Nein, nicht ganz so ahnungslos. Die Zeit drängte ja förmlich, ängstlich oder trotzig, auf einen Krieg hin. Das Buch wirkt zunächst wie eine Wunderkammer aus Zufallsfunden von Namen, Zitaten und Ereignissen. Die kaleidoskopischen Zeitfragmente sind zweifellos amüsant, ziehen reichlich Effekte aus verblüffenden Konstellationen. Zumal der Text insgesamt einen Ton anschlägt, den man feuilletonistisch zu nennen pflegt, heiter distanziert, mit ironischer Empathie und abgekühlter Faszination. Kann man so mit einem Jahr, den Menschen und Geschehnissen darin umgehen, ohne den historischen Ernst zu schleifen? Man kann. Zumal bald klar wird, dass das Verfahren aus der Zeit selbst stammt. Es ist synthetischer Kubismus, nur mit anderem Material als damals, nämlich Text. Und der Pastellton des Feuilletonistischen hat ja seine Mittel aus eben den Traditionen jener Zeit. Selbst die Drucktype des Buchs stammt aus 1913.

Wegen Erschöpfung krankgeschrieben

Doch welche Zeit entsteht so? Kulturzeit. Leidenszeit. Abgesehen von Ereignissen wie U-Bahn-Bau und Abriss der Sternwarte in Berlin oder Gründung der Federal Reserve in den USA, Affären um Oberst Redl und die Garnison Zabern, sind es Künstler und Intellektuelle, die das Feld beherrschen. Aber wie? Rilke dauerleidet, nicht nur am Schnupfen. Musil ist wegen Erschöpfung das Jahr über krankgeschrieben, Kafka, auch kränkelnd und ängstlich, „leidet wie ein Hund“. Max Reinhardt muss sich in Brunshaupten erholen, Sidonie von Nádherný leidet, Oskar Kokoschka leidet in rasendem Liebeswahn an Eifersucht, Picasso ist zwar produktiv, hat aber eine neue, todkranke Geliebte und einen toten Hund. Die russischen Konstruktivisten schocken die Provinz. Die Leute der Künstlergruppe Brücke leiden an der erfolglosen Benefizauktion für Else Lasker-Schüler, die gerade an Hunger und Gottfried Benn leidet. Thomas Mann und Alfred Kerr leiden aneinander. Sigmund Freud erleidet einen Ohnmachtsanfall und leidet schwer an C. G. Jung, der wiederum stur die allfällige Krankheit des „nervösen Jahrhunderts“ (Kafka), die Neurasthenie, an der alle leiden, nicht als lexikonwürdig ansieht. Hermann Hesse ist mit seiner Frau Maria unglücklich, Schönberg wird für seine Musik geohrfeigt. Ernst Jünger rückt in die Fremdenlegion aus, wo er leidet, bis er zurückgeholt wird. Trakl ist verzweifelt und Peter Altenberg verdüstert zusätzlich sein Gemüt, Virginia Woolf leidet u.a. an Misserfolg, Camille Claudel kommt in die Psychiatrie, Arthur Schnitzler will sich erschießen und fühlt sich sowieso unverstanden, Kurt Tucholsky muss Zeitschriftenpläne aufgeben.

Kurzum: Jedermann scheint in diesem Jahr 1913 zu leiden. Nur Ludwig Kirchner kehrt beglückt aus Fehmarn zurück, ebenso zufrieden ist Lyonel Feininger, Kaiser Wilhelm genießt die Jagd, wie auch der österreichische Thronfolger. Und die geklaute Mona Lisa, das gesamte Jahr über verschwunden, kehrt an dessen Ende glücklich wieder. Mutter Aldi eröffnet einen Laden, und geboren werden u.a. Gert Fröbe, Willy Brandt (als Herbert Frahm) und – die wohl selbstironischste Pointe des Buchs – Werner Stein, dessen Kulturfahrplan später die Menschheitsgeschichte Jahr für Jahr verquerschneidern wird.

Kein Jahr des Burnouts

Was also ist mit diesem Jahr? Bei all dem ziemlich mitleidlos ausgestellten, hochangereicherten Künstlerleiden könnte man auf ein Jahr des Burnouts tippen – und damit auf eine ziemlich laue Interpretationsfigur kommen: kollektive Erschöpfung, in den Krieg taumelnd, dessen kräftigendes Stahlbad zum verheerenden Stahlgewitter werden wird. Doch Illies deutet anders, hinterhältiger – und ebenfalls ein Selbstdeutungsmuster der Zeit: Schauspielerei. Er zitiert ein Gedicht von Kurt Tucholsky, in dem wiederum Arthur Schnitzler zitiert wird: „Wir spielen alle. Wer es weiß ist klug.“ Das, schreibt er, „ist so etwas wie der geheime Code des Jahres 1913“.

Florian Illies weiß ums Spielen, und darum ist dies nicht nur ein sehr unterhaltsames, sondern auch kluges Buch. Eins zudem, aus dem man lernen kann. Wie z. B. offenbar dies Leidensspiel zur künstlerischen und intellektuellen Produktivität als Zwilling dazugehört. Mehr aber noch – gerade durch die spielerische Heiterkeit hindurch – lehrt es uns etwas über das Geschehen der Geschichte. Diametral den gegenwärtig so beliebten Drei-Generationen-Romanen mit ihren Zusammenhangserzählungen entgegengelagert, nähert das Verfahren des Buchs die Vergangenheit an die unmittelbare Gegenwart an, in ihrer Unübersichtlichkeit und Unvorhersehbarkeit, öffnet sie zugleich auf unseren blinden Fleck hin: auf unsere Prognosenignoranz ebenso wie die ungeplante Entwicklung, die aus dem Gewusel der Pläne, der verfolgten wie niedergeschlagenen, zu entstehen pflegt. So werden wir zu Zeitgenossen derer von 1913 – ignorante Leidensdarsteller.

1913. Der Sommer des Jahrhunderts Florian Illies S. Fischer 2012, 319 S., 19, 99 €

Erhard Schütz hat das Buch zweimal gelesen, als Stellen- und als Sinnsucher

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