Niemals ganz Herr von sich selbst

Sachlich richtig Literaturprofessor Erhard Schütz über Kindheitshelden, Väter der alten BRD und das Paradie
Ausgabe 04/2014
Niemals ganz Herr von sich selbst

Illustration: Otto

Jede Generation oder Kohorte benötigt ab und an aufgefrischte Erinnerungen an die Helden der Kindheit. Sei’s zum Gemeinschaftsstiften, sei’s, um vor der Gemeinschaft stiften zu gehen. Nun glaubt zugleich jede, dass die nach ihr Gekommenen entweder die falschen oder gar keine Götter mehr hat. Andererseits währt, hört man, Kindheit seit den jüngsten Generationen praktisch ein Leben lang. So entsteht leicht ein Kuddelmuddel der Kohortentotems, Heldenpromiskuität oder Hybridheiligung.

Herausgeber und Beiträger des Bandes Helden der Kindheit sind fast durchweg nach dem Ende der Siebziger geboren und gehören somit mehreren ausgerufenen Generationen an. Wer zu den namenlosen davor gehört, findet dennoch Vertraute: Jerry Cotton, Dagobert Duck oder Tim und Struppi etwa. Befremdlich: nicht Perry Rhodan.

Ob nun die unverwüstlichen Kindheitsfreunde Hotzenplotz, Pumuckl oder Jim Knopf, ob Raumschiff Enterprise oder die Abrafaxe, die Sendung mit der Maus, Alf oder Pacman, Luzie, Wickie, der kleine Vampir oder das A-Team – sie alle und viele, viele mehr versammeln sich hier zum jahrgangsübergreifenden Klassentreffen, vorgestellt von allermeist klugen Nochjungmenschen mit einschlägiger Expertise. Dafür, dass die Identifikationsseligkeit nicht gleich mitzusingen beginnt, sorgen die ambitionierten, indes auch manierierten Illustrationen.

Papa ist gemeinhin nur für junge Menschen ein Held. Die junge Bundesrepublik hatte, zu ihrem höchsten Missvergnügen, ihren ersten Präsidenten entheldend zum Papa gemacht. Für die Protagonisten des nachtragenden Kampfes gegen die böse Adenauerzeit spielte Theodor Heuss aber keine oder allenfalls die Rolle des Scheißliberalen.

Dass ihm in kurzer Frist nun schon die zweite voluminöse Biografie gewidmet wird, indiziert einmal mehr die gewandelte Sicht auf die Jugend der überlebt habenden Republik: die Versuchung zur Gemütlichkeit, Behaglichkeit und Gelassenheit.

Joachim Radkaus Buch, das der Physiognomie der Bonner Republik Konturen gibt, hat selbst etwas von der Gelassenheit und dem Mitsichselbstimreinen, die Heuss, trotz allem, demonstrativ vorzuleben versuchte. Aber es begnügt sich weder für sich selbst noch für sein Objekt damit, sondern zeigt immer wieder auf das Dahinter, auf die biografischen Illusionen und Brüche; vor allem auf die sozialen und intellektuellen Herkünfte und Netze, in denen ein solches Leben allererst seine Wirksamkeit entfalten konnte.

In den Zwanzigern hatten Lothar Wolf und Martha Ruben-Wolf eine gynäkologische Praxis im Arbeiterviertel Niederschöneweide. Sie waren bekennende Kommunisten. Ihr begeisterter Bericht über die Sowjetunion gehörte in den Kern damaliger SU-Propaganda. Sie hatten auch zwei Kinder, Sonja und Walter. 1933 floh die Familie über die Schweiz ins besungene Arbeiterparadies.

Doch hatten sie für die Paranoia des realexistierenden Stalinismus drei Fehler: Sie waren Juden, Emigranten und wirklich Kommunisten. Er wurde denunziert und 1938 ermordet, sie beging danach Suizid. Die Kinder sind staatenlose Waisen. Mit der sowjetischen Staatsbürgerschaft bekommt die 16-jährige Sonja auch einen windigen Aushälter. Sie beginnt zu saufen, wird zur Spitzelei erpresst und zur Denunziantin. Hilft aber nicht.

Mit dem Einfall der Deutschen wird sie nach Karaganda ins Arbeitslager verschleppt. Ihr Bruder stirbt im Krieg, sie leistet unter den menschenunwürdigsten Bedingungen Schwerstarbeit. 1950 reist sie über Deutschland nach Israel aus. 1986 begeht sie in Tel Aviv Selbstmord. Nun sind ihre Erinnerungen, die sie 1963 niederschrieb und mehrfach überarbeitete, erstmals veröffentlicht worden. Sie zu lesen lohnt auch für die, die meinen, schon hinreichend über solches gelesen zu haben.

Seit nahezu 300 Jahren hat sich schubweise das Interesse an den Alpen bei den Nichtälplern so vermehrt, dass es ebenso schwerfällt, noch irgend ein untouristisches Plätzchen zu finden wie eins, über das nicht irgendein Dichter geschrieben hat. Das einst so Erhabene, in dem der Mensch zur Gänze erfährt, dass er, wie Goethe, „niemals ganz Herr von sich selbst“ ist, ist längst vom Haben beherrscht, sodass man einfältig, robust oder heroisch riskierlich sein muss, um die Fallhöhen zwischen urwüchsigem Schauern, kulturkritischem Schauen, pekuniärem Schaufeln und touristischem Hinwegsehen ohne Gedanken- und Sprachbrüche zu passieren.

Andreas Lesti hat sich vor zig Jahren refugial im Hornbachtal angesiedelt, in dem nur der Kenner den grimmen Neid der Bewohner auf die Touristen von vermeintlich urtümlicher Rauheit scheiden kann. So einer ist prädestiniert für den musternden Blick auch auf die Literatur. Herausgekommen ist ein Kreuzundquerzug durchs Alpengebiet, zusammengesetzt aus eigener Autopsie und eben Literarischem. Ein Buch, das der Liftverächter ebenso gut lesen kann wie der Couchfreeclimber.

Helden der Kindheit aus Comic, Film und Fernsehen Hrsg. Andrea Baron, Kai Splittgerber Edition Büchergilde 2013, 320 S., 22,95 €

Theodor Heuss Joachim Radkau Hanser 2013, 512 S., 20,99 €

Im roten Eis. Schicksalswege meiner Familie Sonja Friedmann-Wolf Aufbau Verlag 2013, 460 S., 24,99 €

Oben ist besser als unten. Eine literarische Expedition in die Alpen Andreas Lesti Rogner & Bernhard 2013, 320 S., 22,99 €

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