Beginnen wir mit dem dicksten Brocken: Es könnte unverschämt erscheinen, ein solch umfassendes und grundgelehrtes Buch in ein paar Zeilen abzuhandeln. Aber was sollte auch eine längere Rezension viel anderes machen können als das Inhaltsverzeichnis staunend zu kommentieren und vielleicht noch hier und da Wünsche und Korrekturen anzumelden?
Was es nicht ist: Keine geschichtsphilosophische Großspekulation wie Spenglers Untergang des Abendlandes und keine Kettenrezension des Welttheaters wie Friedells Kulturgeschichte. Stattdessen gibt es eine stets klar strukturierte, mit Anekdoten ökonomisch bestückte Führung durch Sitten, Lebensformen und Verhaltensregularien Europas. Drei Großkapitel: Körper (Vom Geschlechterverhältnis über Emotionen, Ernährung bis hin zum Umgang mit dem Tod), Mitmenschen (Von der historischen Demographie über die soziale Bedeutung von Bildung, Schichten und Randgruppen hin zu Typen der Kulturkontakte.), Umwelt (Von Raum und Natur über Lebensqualität und Neue Medien - die freilich beim Fernseher enden - hin zu Gedächtnis und Geschichte).
Was es wahrhaft ist: Ein methodisch prägnantes, nüchtern und klar geschriebenes, kurz grundsolides historisches Hausbuch von länger dauernder Haltbarkeit!
Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, C.H. Beck, München 2004, 718 S., 39,90 EUR
György Dalos ist kein ungarischer Historiker, sondern Schriftsteller, der seit langem in Berlin lebt. Ein klarer Kopf. Seine Nussschale transportiert eine durchaus eingreifende Geschichte. Sie will Ungarn näher an Europa anschließen, schon, um sein Land vor der Versuchung zu bewahren, soziale Fragen autoritär zu lösen - wie nicht nur in der jüngsten Vergangenheit oft und schlimm genug geschehen. Mit gescheiter Lakonie, immer wieder gewürzt von sarkastisch-heiteren Kommentaren, steuert er das sprachlich so isolierte, aber seit je mit dem Geschick Europas verbundene Volk der Magyaren von den fernen Bildern der kühnen Landnahme durch die lange und wechselvolle Geschichte der Könige, durch Okkupationen und Ausfälle von den Mongolen über die Türken und Habsburger, schließlich Weltkrieg, Räterepublik, Frieden von Trianon, wieder Weltkrieg, Holocaust, Pfeilkreuzler- und Stalinismus-Terror, Volksaufstand, Zuckerbrot und Peitsche Kádárs bis hin zum Systemwechsel und dem im Umbruch verlorenen Konsens. Ein Geschenk vom Nachbarn, aus dem man am Ende fast ebensoviel über Europa wie über Ungarn erfahren hat und das ahnen lässt, wie schwierig, aber wie unumgänglich Europa werden wird.
György Dalos: Ungarn in der Nußschale, C.H. Beck, München 2004, 200 S., 19,90 EUR
Nach klassischem Sachbuchmuster beginnt Langner seine Biografie des Afrikaforschers Gerhard Rohlfs, dem im 19. Jahrhundert unter anderem der Ruhm als erster Durchquerer Afrikas vom Mittelmeer zum Golf von Guinea zuviel, vor allem aber selbst ein seinerzeit vielgelesener Reiseautor war: Erst einmal gibt es einen spannenden, unmittelbaren, atmosphärischen Einstieg. Und dann folgen, Kapitel für Kapitel entlang den Lebensstationen und Reisen Rohlfs, geschickt verknüpft mit Zitaten und Paraphrasen aus dessen Büchern, Infos um Infos - zur Erdgeschichte Afrikas wie zur arabischen Medizin, über Heuschreckenplagen wie Dünenbildung, Sklavenhandel wie Kamele, Malaria wie die Geschichte der deutschen (Nord-)Afrikaforschung, immer mal wieder politisch korrigiert durch moralisierende Sentenzen. Aber das ist sehr geschickt gemacht und so solide gestrickt, dass man am Ende ein spannendes Buch gelesen und unter der Hand viel gelernt hat.
Langner, Rainer-K.: Das Geheimnis der großen Wüste. Auf den Spuren des Saharaforschers Gerhard Rohlfs, S. Fischer, Frankfurt am Main 2004, 302 S.,
19,90 EUR
Die Chicago School of Sociology, um und nach Robert E. Park, werden zumindest Experten noch verorten. Aber wer kennt schon Henry Mayhew oder Charles Booth, gar Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze? Es sind allesamt auf unterschiedliche Weise Pioniere der Großstadtforschung, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts ins Feld wagten, über den Fluss gingen, auf die andere Seite - dort, wo die Massen, die Armen, die Unsteten, die von der bürgerlichen Ordnung Ignorierten oder Dämonisierten lebten. Es waren Figuren mit einer "nostalgie de merde" und einer Obsession für die "sinks of vice", Entdeckungsreisende ins innerstädtische Afrika. So die Fama. Sie verkleideten sich, nicht ohne Lust an der Maskerade. Was sie von dort mitbrachten war Beschreibung von Ordnung, Ritualen, waren Typologien, Klassifikationen. Kurz: Erfassung von Lebensformen. Leute, die sich dabei immerhin aber selbst, ihre Reputation oder körperlich aufs Spiel setzten. Das produktiv Grenzgängerische, Riskante und Vermengte seines Faches hat der Europäische Ethnologe Rolf Lindner so kundig und lebendig rekonstruiert, dass es eine Lust ist, sich zumindest lesend da einzumischen. Und Angst vor den Ängsten der Städte nimmt das Buch auch!
Rolf Lindner: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Campus, Frankfurt am Main 2004, 240 S., 24,90 EUR
Bei seinem laxen Verhältnis zur Faktenwahrheit hätte Kisch selbst ihn gewiss nie bekommen, aber der nach ihm benannte Preis ist dennoch neben dem Theodor-Wolff-Preis wohl das Beste, was einem deutschen Journalisten zustoßen kann. Ullrich Fichtner vom Spiegel über einen Kommandeur von Saddams Garden, Harald Martenstein vom Tagesspiegel über Ulla Berkéwicz als Unselds Erbin und ein Team vom Spiegel über Gerhard Schröders Spiel, sind die diesjährigen Gewinner.
Umgeben von 25 weiteren Reportagen der engeren Preis-Wahl kann man sie jetzt noch einmal nachlesen. Und das hat einen doppelten Effekt: Zum einen sieht man, wie guter Journalismus aussehen kann, liest man, über welche sprachliche Modulationen hervorragende Journalisten verfügen. Zum anderen hat mein eine ganz eigene Chronikalik des vergangenen Jahres, zwischen der Weltmacht Nike und der Bush-Macht USA, sieht man Eintagsfliegen wie Westerwelles Welt in Bernstein gegossen und Momentaufnahmen von Bestialität noch langer Dauer, wie der Krieg der afrikanischen Kindersoldaten. Das am Stück zu lesen, hält man nicht aus. Aber man kann sich Zeit lassen: die Machart der Reportagen ist ja haltbar.
Egon Erwin Kisch-Preis 2004. Die besten deutschsprachigen Reportagen, Aufbau, Berlin 2004, 306 S., 20 EUR
Ein ehemaliger Tennismeister denkt sich während der Trainerstunden, die er gibt, kleine Geschichten und Traktate aus. Über Jahre. Gesammelt, so die Legende, werden sie ein Dauerbrenner: Abhandlungen über die Gelassenheit. Die kleine, ehrgeizige Verlagsbuchhandlung liebeskind hat diesen Liebling französischer Leser nun auf Deutsch verlegt. Wer das Buch aufschlägt, wird geneigt sein zu sagen: So sind sie halt, die Franzosen. Eitel und sprachlich aufgeblasen, voller vollmundiger Zitate und hohler Tiraden. Banal, aber mit umwerfender Großgeste. Indes, wenn man sich ein bisschen weiter vorgetastet hat, dann findet man seinen müßiggängerischen Rhythmus, lässt sich von Anekdoten einlullen und Zitaten anregen und hat am Ende das Gefühl, von einem Akupunkteur der Leselinien behandelt worden zu sein. Kann man, muss man nicht. Hilft aber zumindest momentan.
Denis Grozdanovitch: Kleine Abhandlung über die Gelassenheit, liebeskind, München 2004, 206 S., 19,80 EUR
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