Ihr seid Menschen wie alle und werdet immer arbeiten. Gerade darum habt ihr so viel Begabung zur Freude. Niemand kann sich freuen wie ein guter Arbeiter. Vergeßt es doch nicht, wenn ihr klagt, daß die Gesellschaft euch euer Leben abkauft und daß ihr immer nur der Bruchteil einer Kraft, nie die ganze Kraft seid. Dafür seid ihr die ganze Freude." So lautete die Botschaft von Oberingenieur Birk an seine Kinder und deren Anhang, und damit von Heinrich Mann im Roman Die große Sache an seine erhofft jugendliche Leserschaft. Dass Arbeit als Freudenquell besser sei als die anderen beiden "strebenden Kräfte", nämlich Beziehungen und Kriminalität, das zu erhärten, hatte Heinrich Mann 1931, inmitten der Wirtschaftskrise, unternommen.
Solch Apologie der Arbeit scheint mehr als antiquiert in einer Zeit, in der Kriminalität von Global Players betrieben und Beziehungen längst zu einem eigenen Arbeitsmarkt geworden sind. Und Freude? Wo wäre Platz für sie in einer Kultur der Spaßarbeit? Dennoch erinnert man sich nicht von ungefähr dieser Beschwörung der Arbeits-Freude. Stammt sie doch aus einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit so bedrohlich wuchs, dass selbst die Amüsierkultur Arbeitsplätze abbauen musste. Eine Entwicklung, deren Wiederholung gegenwärtig nicht gar so unwahrscheinlich ist.
Was arbeiten die eigentlich?
Überhaupt scheint die Frage nach dem Verhältnis der Literatur oder der Künste zur Arbeitswelt Konjunkturen zu unterliegen, die sich reziprok zu den Konjunkturen der Arbeit verhalten. Offenbar immer dann, wenn sich das Bewusstsein veränderter Arbeitswelt durchzusetzen beginnt, klagt man ein intensiveres Abbildungs- und Reflexionsverhältnis der Literatur zur Arbeit ein. Statt sich mit der Literatur als einem Teil gesellschaftlicher Arbeit und mit den Fertigungsprozessen literarischer Werke abzugeben, wird der Literatur vorgehalten oder angetragen, sich doch illustrativ und reflexiv zur Umwelt, speziell von Arbeit zu verhalten. Womit dann aber nicht gemeint ist, die Umwelt überhaupt als Arbeitswelt zu beobachten und die Symptomatik eines gewandelten Begriffs von Arbeit in Korrelation gewandelter Arbeitswelt zu studieren. Gemeint scheint vielmehr stets, den mit Unbehagen wahrgenommenen Veränderungen durch Abbildung Rechnung zu tragen, mithin Rückversicherung, sentimentale und nostalgische Archivalik des noch Gegenwärtigen zu betreiben.
Das Vergehende im Augenblick seines Vergehens festzuhalten. Doch hat sich dabei etwas gewandelt, scheint es. In den Endfünfziger und frühen sechziger Jahren haben so unterschiedliche Figuren wie Alfred Andersch, Walter Jens, Hildegard Hamm-Brücher und Robert Minder energisch darauf hingewiesen, dass die deutsche Lesewelt, die der Lesebücher zumal, im Agrarischen stecken geblieben, wo ringsum längst die industrialisierte Welt in selbstbezüglicher Krise der Fall war. Was darauf folgte - und was uns gleich noch beschäftigen wird -, die literarische Auseinandersetzung mit der industrialisierten Arbeitswelt, endete in den achtziger Jahren eben dort, wo die Kritik ihren Anstoß genommen hatte: "Unsere Texte", so 1987 Helmut Barnick, damals zweiter Sprecher des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, "finden sich ganz offiziell in Lesebüchern, die in den Schulen verwendet werden. Der Werkkreis hat auf die Weise in die Literatur eingewirkt, daß er die Arbeitswelt dort stabil gemacht hat. Das ist bleibender Verdienst."
Beschwörung der Arbeitsfreude
Im selben Jahr beklagte von der anderen Seite her ein gewisser Lothar Ulsamer, Pressesprecher von Antennen-Hirschmann, in seiner Dissertation mit dem markigen Titel Zeitgenössische deutsche Schriftsteller als Wegbereiter für Anarchismus und Gewalt: "Texte zur Arbeitswelt werden heute überwiegend von Mitgliedern der Gruppe 61 oder des Werkkreises veröffentlicht, und mit Vorliebe geraten jene Texte in Sammelbände und Schulbücher, die die Realität am ungenauesten beschreiben und die größten Verzerrungen enthalten." Doch größer als die sozialen und politischen Differenzen, die damit gemeint waren, war die Differenz der lesebuchnotorischen industriellen zur längst angebrochenen post-industriellen Arbeitswelt. Die industrielle Arbeitswelt war mithin nach 20 Jahren dort gelandet, von wo sie die agrarische Welt einst vertrieben hatte, in den Lesebüchern als Archiven von gegenwärtig Vergangenem. So nachhaltig geschah das, dass Norbert Dithmars Menetekel von 1973, die "Tabuisierung" der modernen Arbeitswelt im Lesebuch habe "wesentlich zur Krise des literarischen Unterrichts beigetragen", späterhin durch das Menetekel abgelöst wurde, die Krise des Deutschunterrichts rühre just aus der Fixation auf Industrieliteratur. Seither hatte man ohnehin wenig von der Arbeitswelt in der Literatur gehört. Pop-Diskurs und Spaßgesellschaft, die vorübergehend große Aufgabe des Großen Deutschen Romans, als Wende- und Einheitsroman, das Ereignis des jungdeutschen Literaturwunders - Arbeit genug, um nicht an die Arbeitswelt denken zu müssen.
Zudem: Die Arbeit scheint ausgegangen. Wie sehr hat man das vor nicht allzu langer Zeit bejubelt - Arbeit in der Neuen Ökonomie, im Netz, in der Erlebnisgesellschaft schien endgültig ewige Freizeit und Fun - der Arbeitsplatz im Office, zu Hause, unterwegs oder im Urlaub, Shopping und Spekulation, Information und Unterhaltung zunehmend ununterscheidbar. Die Arbeit kam aber von ihrem Ausgang nicht wieder - statt dessen Unglücksnachrichten: Blase, Schwindel, Pleite, Crash. Gründerschwindel und Gründerkrach - Version 2.0, die Spaßversion der ehedem Reichsgründung. Die Arbeit scheint wirklich ausgegangen und nimmer heimzukehren. So wandelt sich die feierabendliche Freude der Kinder über die abwesenden Eltern zusehends in die Furcht, verlassen worden zu sein, im kalten Dunkel und allein bleiben zu müssen.
Und währenddem - und wahrscheinlich auch ohne den 11. September, nur nicht ganz so schnell - die seinerzeit geschmähte "Gesinnungsästhetik" in Gestalt von Günter Grass und Christa Wolf gefeiert wiederkehrt, selbst die vernebelnde Wortschwallerei eines Hermann Kant öffentlich ernsthaft bedacht statt verhöhnt wird, halten No-Logo-Gesinnung und das hochspekulative Empire in den Kriterienkatalog für Literatur Einzug - und es beginnt, was seinerzeit der Studentenbewegung triumphal entgegen scholl, man solle doch erst einmal richtig arbeiten, zunehmend zumindest als Frage an die Figuren der jüngsten deutschen Literatur gestellt zu werden. Was arbeiten die eigentlich?
Ja, was arbeiten sie eigentlich? Wenn sie nicht Interrailer, Ferienreisende, Erben oder Literaturstipendiaten sind - welche Berufe haben sie? Machen wir ein paar Stichproben im Jüngsten: Sven Regeners Herr Lehmann ist Bierzapfer. Georg Kleins Protagonist von Barbar Rosa ist Detektiv - die seit je fadenscheinigste Tarnform der Arbeitslosigkeit. Thomas Lehrs Hauptfigur in Nabokovs Katze ist Regisseur. Norbert Zähringers Cordt Gummer in So ist Bankangestellter, der ganze Rest des Romans so ziemlich arbeitslos. Die Hauptfigur von Stefan Beuses Die Nacht der Könige ist Werbemensch. Thomas Schwarz in Georg M. Oswalds Alles was zählt ist leitender Bankangestellter, am Ende aber eher Sonnenbanker. Christian Schlier aus Reiner Merkels das Jahr der Wunder arbeitet für eine Werbeagentur. Der manische Ich-Erzähler von Marcus Jensens Red Rain ist eine verkrachte Existenz, die von einer Staatssekretärin den Auftrag erhält, einen Schamanen zu mimen. Höfe, der Held von Christof Hamanns Seegfrörne, studierter Historiker, wird mit 40 im Projekt einer Gemeindechronik beschäftigt. In Stadt Land Fluß von Christoph Peters ist der Protagonist sich selbst beschäftigender Kunsthistoriker. Jan Peter Bremer stellt in Feuersalamander einen Möchtegern-Schriftsteller dar. Die Protagonisten von Jochen Missfeldts Gespiegelter Himmel sind Starfighter-Piloten. Das zählt aber nicht, denn sie sind es in den sechziger Jahren. Bei Andreas Maier haben wir es in Klausen mit einem Berlin-Stipendiaten und einem Kunsthandwerker zu tun. Der Held von Jörg Uwe Sauers Das Traumpaar ist Hochstapler, der zuvor von Uni-Klinik Germanistik-Assistent. Der Held von Steffen Kopetzkys Überschwarte Grand Tour ist Schlafwagenschaffner. Oskar Zorrow in Henning Ahrens Lauf Jäger lauf ist Tierkadaverbeseitiger. Ralf Hammerthalers Alles Bestens führt einen promovierten Verleger und Chefredakteur vor und Norbert Krons Figur in Autopilot ist ein zeugungsunfähiger Fernsehproduzent.
Kunsthandwerker und Schlafwagenschaffner
Helmut Böttiger hat dem unlängst im Tagesspiegel (6.3.02) noch einige andere Beispiele beigefügt und bemerkt, dass fast alle Figuren studiert haben, mithin zu dem Kreis zählen, den man Akademiker zu nennen pflegte, und jetzt gern als "akademisches Proletariat" apostrophiert zu werden pflegt. Böttigers Befund: "Die Gegenwartsliteratur hat die Arbeitslosigkeit längst hinter sich gelassen." Und Hubert Winkels hat dem am 10. Mai in der Zeit sekundiert, indem er von einer "Art Renaissance der Literatur der Arbeitswelt" sprach, "konzentriert allerdings auf den Dienstleistungssektor".
Martin Walser, der immer einen aufmerksamen Blick auf die Entwicklungen der Arbeitswelt gehabt hat, sagte vor zehn Jahren, er habe sich stets bemüht, seine Figuren mit ordentlichen Berufen auszustatten, weil "das Geldverdienenmüssen", so seine Begründung, für uns "fast schon eine anthropologische Konstante [ist]. Ein Roman, in dem das Geldverdienenmüssen keine Daseinsbedingung ist, tendiert zur Operette, und sei´s zur schwarzen." Es scheint symptomatisch, dass Walser nicht vom Arbeiten- sondern Geldverdienenmüssen sprach. Die Arbeitswelt ist diffundiert in die Geldverdienwelt. Und von daher ist das Verschwinden einer Literatur der Arbeitswelt nicht zu bedauern, sondern stellt selbst eine Form des Realismus dar. Blättert man gar die tagtäglichen Zeitungen durch, dann scheinen Heinrich Manns drei strebende Kräfte tatsächlich beliebig kombiniert oder zusammengefallen: Verbrechensarbeit, Beziehungsarbeit, Verbrechensbeziehungen als Arbeit und umgekehrt. So scheint, was Georg Simmel, von dem Heinrich Mann gelernt hat, 1900 formulierte, nicht mehr nur für die moderne Großstadt sondern schlechthin zu gelten: "In den modernen Großstädten gibt es eine große Anzahl von Berufen, die keine objektive Form und Entschiedenheit der Betätigung aufweisen: gewisse Kategorien von Agenten, Kommissionäre [...] Jene großstädtischen Existenzen, die nur auf irgendeine völlig unpräjudizierte Weise Geld verdienen wollen [...]". Sie "stellen ein Hauptkontingent zu jenem Typus unsicherer Persönlichkeiten, die man nicht recht greifen [...] kann, weil ihre Beweglichkeit und Vielseitigkeit es ihnen erspart, sich [...] in irgendeiner Situation festzulegen. Daß das Geld und die Intellektualität den Zug der [...] Charakterlosigkeit gemeinsam haben, das ist die Voraussetzung dieser Erscheinungen".
Somit müsste man heute Heinrich Mann anempfehlen, hinsichtlich des idealen Arbeiters der Post-Industrie doch besser bei seinem Bruder nachzulesen - im Felix Krull. Der Hochstapler als Inbegriff des Freudenarbeiters.
Holt man sich überdies Rat bei den Gurus der Marktwirtschaft, den Marketing-Experten, so findet man beim Guru der Gurus, bei Philip Kotler, folgende denkwürdige Charakterisierung der Gegenwart und ihrer Zukunft: "Heutzutage fordern viele Kunden Spitzenqualität, zusätzliche Serviceleistungen, großen Komfort, maßgeschneiderte Fertigung, umfassende Rückgaberechte, weitreichende Garantien - und alles zum niedrigsten Preis." Das gälte, da für jede beliebige Unternehmung, auch für Literatur.
Die neuen Freudenarbeiter
Aber ganz so einfach wollen wir es uns nicht machen. Es sei denn doch nicht vergessen, dass zwischen dem optimierten Kundenwunsch und dem Hochstapler als dem idealen Dienstleister zu seiner Befriedigung, das Eine oder Andere nicht Unwesentliche vergessen worden sein könnte - von der strukturellen Arbeitslosigkeit bis hin zur ausgelagerten, im wahrsten Sinne verschobenen Arbeit, von den Wärmestuben bis zu den Sweat Shops, die ja ebenso Realität der globalisierten Marketingesellschaft sind wie Manager, Trendscouts und Markendesigner. Denn neben der Freudenarbeit gibt es immer noch den biblischen Fluch - den Fluch der auf Kinder und Analphabeten peripherisierten Arbeit, den Fluch der Ausbeutung, den Fluch der Arbeitslosigkeit wie den Fluch der Überarbeitung.
Nun allerdings von der Literatur erwarten zu wollen, sie müsse eben dies, die Freudenarbeit wie den Arbeitsfluch, den Hamburger Werbetexter wie die Sweat-Shop-Sklavin auf Sri Lanka darstellen, globalisierte nur, woran schon der "Sociale Roman" des 19. Jahrhunderts scheiterte.
Flexible Autoren
Aber es gälte vielleicht anderes im Verhältnis von Literatur- und Arbeitswelt zu bedenken, nämlich das metonymische Verhältnis von Literatur- und Arbeitswelt. Die Arbeitswelt der Literatur ist doch längst weithin pars pro toto für die allgemeine Arbeitswelt. Was sind die modernen Autoren anderes als Prototypen des vom neuen Kapitalismus geforderten "flexiblen Menschen", wie ihn Richard Sennett beschrieben hat? Stipendiat und Projektant, Partnerversorgter und Medienarbeiter, Ausgehaltener und Dazuverdiener, allzeit mobil - heute auf Lesereise, morgen Stadtschreiber und übermorgen auch mal zu Hause. Fähig, flott aufzutreten, zu rappen und zu steppen, Interviews zu geben, je nach Bedarf Romane, Erzählungen, Stücke und Drehbücher zu liefern, Statements, Essays, Kolumnen, oder - falls gewünscht - auch ein Gedicht.
Und so würde dieser flexible Autor, wenn er sich denn daran machte, seine Arbeits-Lebenswelt zu beschreiben, nicht im Elfenbeinturm verschwinden, sondern eher Gefahr laufen, sich in unser aller Alltag zu verlieren. Wo aber blieben dann noch Unterschiede? Nun, hier wären wir am Ende vielleicht auf den Anfang verwiesen, als Arbeit - der Bedeutung nach - noch nicht Arbeit, sondern Anstrengung und Mühe meinte, die Zeit von "helden lobebaeren und grôzer arebeit". Dass dies kein Recycling "alter maeren" ist, dafür möchte ich zum Schluss ausgerechnet eine Modearbeiterin in den Zeugenstand rufen, nämlich Vivienne Westwood - und ihren Satz zitieren: "Arbeit. Arbeit. Arbeit. Es gibt nichts anderes als steinharte Arbeit. Das ist die letzte Kraft der Subversion.
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