Das erste Wort, das die deutsche Brut lernt, ist Auto. Danach kommt, glaubt man Thomas Bernhard, das »Lebensstichwort« Wald. Doch auch im Wald kommt das Auto zuerst: »Zunächst ist hier das Auto zu nennen. Es fungiert für die Anreisenden nicht allein als Transportmittel, sondern dient«, hat der Volkskundler Albrecht Lehmann erkannt, »typischerweise als Ausgangspunkt von Wanderungen« und als deren »glückliches Ende«. Dazwischen aber liegt der Unterschied ums Ganze. Hat der eine Wandersmann dort seine Begleiterin auf dem Moospolster geherzt, sich im sonneglitzernden Frühtau zu Berge labenden Trunk aus murmelnden Bächlein geschöpft, an Beeren genascht, dem Jubel gefiederter Sänger gelauscht und am Waldrand Ricke und Kit
Superzeichen des richtigen Lebens
VON NATUR AUS KÜNSTLICH Neue Literatur zum deutschen Nationalsymbol Wald
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Kitz traulich äsen gesehn, so taumelt der andere vorbei an Menetekeln gestorbener Bäume, zeckenverbissen und vom Bandwurm befallen, stolpert unterm schaurigen Ruf des Käuzchens durchs dunkle Fichtendickicht, verirrt, von den Kugeln schießwütiger Jäger umpfiffen, von tollwütigen Füchsen gehetzt, niedergestreckt von einem Mountainbiker, den ein Wildschwein vom Rad katapultierte, auf ein Lager zu, wo die Baader-Meinhof-Bande zusammen mit rumänischen Geldschränkern Igel am offenen Feuer grillt, endlich, besudelt durch die Schüsse von Gotcha-Spielern, zum Auto zurück - dessen Reifen plattgestochen sind von Einwegspritzen.Das scheint, leicht verdichtet, die Waldsicht der Deutschen, von denen ein Viertel Städter und ein Drittel Ländler die Natur ein bis zweimal monatlich auf- oder heimsuchen. Kommen noch die Wald- und Weltbilder derer hinzu, die dort Dienst oder Gottesdienst tun, die als Besitzer, Waldarbeiter oder Förster vom Wald leben, immerhin ca. 600.000, sowie die ungefähr 6.000 Neuheiden. Baumheilkundige und Waldesoteriker nicht mitgezählt. Man sieht, der deutsche Wald hat wesentlich mehr zu bieten, als nur den Anlaß für Âle waldsterben und den totzitierten Satz Elias Canettis vom marschierenden Wald als deutschem Massensymbol. Albrecht Lehmann bringt den gleich zu Anfang hinter sich, um dann seinen volkskundlichen Mischwald zu durchstreifen, der eben als Preßspanversion geliefert wurde: Nichts scheint dabei vergessen, der Wald der Beeren-, Bucheckern- oder Pilzesammler so wenig wie der der Imker, Mountainbiker oder Waldsterbensvoyeure. Nicht das Fichtennadelöl und nicht die »rote Arbeit«, wie der Euphemismus der verfolgten Minderheit der Jäger für ihre Leidenschaft lautet. Ebensowenig das unterschiedliche »Waldbewußtsein«, Waldangst und Wanderlust von Jung und Alt, Männlein und Weiblein (letztere riechen dort z. B. mehr), oder Kindheitswald, Bunkerwälder und Hitlereichen. (Heute mögen die Deutschen lieber Birken und Linden.)Gewappnet mit profunden Kenntnissen aus Biologie, Geschichte und Literatur, gestützt auf Interviews, liefert Lehmann eine wohlabgewogene Mischung aus Systematik und Anekdotik. Sein Buch könnte damit den ultimativen Ersatz für den großen deutschen Waldroman der Gegenwart bieten, der ja mindest ebenso schmerzlich vermißt wird wie der über den alten Luftkrieg oder das neue Berlin.»Für eine Liebe und ein Interesse hinsichtlich eines Kulturthemas bei gleichzeitiger Distanz zur Realität ist der Wald keineswegs ein Einzelfall.« Leider findet man derartig verbeamtete Sätze nicht selten - wie Betonpilze in den Waldsprachboden gerammt: »Hinsichtlich der ökologischen Aspekte des Waldbewußtseins konnten wir in unserer Untersuchung folgende Tendenz beobachten:« Oder: »Adalbert Stifter hat den Beginn dieses auf die Bäume bezogenen Bewußtseinsprozesses beschrieben.« Oder: »Im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung suchen die Neuheiden den Wald sowohl bei Tag wie in der Nacht auf, in der Gruppe und allein.« Vielleicht soll uns das aber auch nur gemahnen, dass die Sprache so wenig von Natur aus sprachlich ist wie der Wald natürlich? Lehmann erinnert denn daran, dass die Stiftungsurkunde des deutschen Waldes in Tacitus' Germania wenig mit der damaligen Realität des Waldes zu tun gehabt haben dürfte und dass die älteste »authentische« Waldliteratur zu Beginn des 6. Jahrhunderts sich mit Rechtsfragen befaßt, Reaktion auf Waldschäden durch Überweidung, Rodung oder Brand. »Wo alles in seiner natürlichen Ordnung ist, bedarf es keiner Verbote und Vorschriften.»Was die natürliche Ordnung der Waldnatur angeht, ist der Pflanzenökologe Hansjörg Küster noch radikaler. Bei ihm ist, zugespitzt, der Wald, was der Mensch beim Anthropologen Plessner ist: von Natur aus künstlich. Küsters Geschichte des Waldes von der Urzeit bis zur Gegenwart geht natürlich über den Âdeutschen Wald weit hinaus, wiewohl er immer wieder auf die endemischen Waldverhältnisse zurückkommt. In ebenso ökonomischer wie plastischer Darstellung, vorbildlich leserfreundlich bei wissenschaftlicher Exaktheit, zeigt Küster, dass Wald von Zeit zu Zeit nicht nur immer wieder etwas anderes bedeutete, sondern dass er auch immer wieder anders und woanders war. »Es ist also von Natur aus kein Zustand im Wald langfristig stabil; es herrscht ein ewiger, aber langsam verlaufender Wechsel der Waldbilder.« Zumal dort, wo der Mensch mit im Spiel ist. Das ist er ja schon länger. Wer auf Natürlichkeit sich beruft, wenn er den Erhalt oder die Wiederherstellung von Waldformen fordert, bezieht sich so immer auf einen künstlichen, in jedem Falle mehr oder weniger willkürlich fixierten, zeitlichen Zustand. So erinnert Küster daran, dass die für ihre monokulturellen Nadelholzwälder vielgescholtenen Forstleute des 19. Jahrhunderts überhaupt erst wieder weite, lange entwaldete Teile Mitteleuropas zu Waldland gemacht haben.Noch die romantische Waldnatur war das Produkt einer unselbstverständlich gewordenen Form der Waldkultur. Angesichts der Kulturbrachen träumte man von dichten und dunklen, zugleich aber auch lieblich lichten Wäldern, die so erst herzustellen waren. Die durch Bewirtschaftung und ästhetische Korrekturen der Bewirtschaftungsfolgen hergestellten Wälder wurden dann in der Naturschutznatur festgeschrieben oder abermals hergestellt. Um es zuzuspitzen: Der Partikularismus der Fürsten, den die patriotischen Jünglinge abschaffen wollten, war mit seinen regionalen Jagdinteressen Garant dafür, dass der deutsche Wald überhaupt noch in der Form bestand, in der man ihn dann gegen Frankreich als Nationalsymbol hochhalten konnte. Das wiederum hielt aber die Walddeutschen nicht davon ab, ihr Holz an die Industrie, vor allem ins Ausland zu verkaufen. Napoleons Handelsblockade gegen England hat daher den deutschen Wald vor den Deutschen geschützt: die Engländer orientierten sich fortan auf ihre Kolonien. Und dann geriet die Industrie unter Dampf. (Die Kohle wäre ein anderes Kapitel der Wälder.) Der Wald wird Ästhetikum zur Erhaltung der Arbeitskraft. Und er wird, im Natur- und Heimatschutz seit der Jahrhundertwende zum Superzeichen des richtigen Lebens: für den rechten Umgang mit der Industrialisierung, für die menschliche ÂGemeinschaftÂ, für die organische Geschichte und die natürliche Auslese. Ausgerechnet den Nazis, die den ästhetischen Waldkult propagandistisch am weitesten trieben, blieb es vorbehalten, den deutschen Wald wieder kräftig zu dezimieren. Ihr Bild vom richtigen deutschen Wald aber überdauerte. Daneben hinterließen sie nicht nur zahlreiche »Hitlereichen«, sondern auch hier und da in die Wälder gepflanzte Hakenkreuze. Lehmann überliefert die Geschichte des angeblich größten Hakenkreuzes der Welt. Just das aber wurde nachweislich nicht als solches gepflanzt und nicht mit korrekten Haken versehen. Die Nach-Volksgemeinschaft nahm das als günstige Gelegenheit zur Geschichts-Korrektur: Der falsche Haken sei ein Akt des Widerstands gewesen! Man sieht: Das deutsche Waldbewußtsein ist stets up to date. »Wenn ich irgendwo in 'ner Fichtenmonokultur rumrenne, sage ich: Âmein Gott, hier ist 'ne Wüste. - Aber ich frag halt immer im Wald, auch im Mischwald: ÂMein Gott, was tut sich hier ökologisch?»Sprache und Denkungsart des Hamburger Studenten, den Lehmann so zitiert, sind Friedemar Apels Sache glücklicherweise nicht. Seine literarhistorische Darstellung zum deutschen Geist in deutscher Landschaft zieht sich an einzelnen Autoren entlang, beginnend mit Jacob Böhme und endend mit Herta Müller. Dazwischen Novalis, Hölderlin, Fontane, aber auch George, Borchardt, Thomas Mann oder Adorno - die ÂOstmark lediglich durch den Germanisten Josef Nadler, die Deutschschweiz durch seinen Kollegen Emil Staiger vertreten. So liefert Apel eher das gute Alte und Bekannte, zeigt einmal mehr die eigentümliche deutsche Fixation an Ganzheitlichkeit, das Janusgesicht von »Einsamkeitssucht und Bindungswillen«, die ewige Rückkehr zum Ursprünglichen und Unergründlichen. Aber er bringt das in vielen Facettierungen, kundig, klug, manchmal luzide geschrieben, dass man sich an der Traditionskraft der Literaturwissenschaft gern tröstet, wo Biologen und Volkskundler unser Wald- und Weltbild derart erschüttern. Apels Buch ist da wie eine klassische Wanderung, zu der eben auch gehört, dass man am Ende ein wenig ermüdet ist. Vielleicht liegt es aber auch bloß am Alter. Die Jugend indes, weiß Lehmann zu berichten, findet Wandern - wie Lesen - sowieso ätzend, uncool und megaout. Was tun? Soll man dem einschlägigen deutschen Vereinswesen der Kniebündler empfehlen, sich - analog zum Joggen, ehedem Waldlauf - einen neuen Begriff designen zu lassen? (Woodscruizing vielleicht.) Oder soll man nicht froh sein, dass nun der Wald bald seine wohlverdiente Ruhe hat? Warten wir's ab und lesen derweil, wie der Wald sich sowieso verändert.Friedemar Apel: Deutscher Geist und deutsche Landschaft. Eine Topographie, München: A. Knaus 1998, 251 Seiten, 39,90 DMHansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München: C.H. Beck 1998, 267 Seiten, 58,- DMAlbrecht Lehmann: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald, Reinbek: Rowohlt 1999, 350 Seiten, 48,- DM
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