Tiere würfeln nicht

Dreirat Von der Astrologie bis zum Glücksspiel: Erhard Schütz liest neue Sachbücher

Dem sich aufgeklärt dünkenden Menschen ist Astrologie in der Regel mindestens so suspekt wie fliegende Untertassen oder Poltergeister. Was passiert indes, wenn man sie ernst nimmt - nicht unbedingt im Sinne von Schicksalsvorbestimmtheit, aber als ein Trainingsfeld für intellektuelle Aufmerksamkeit? Lorenz Jäger - nicht unwahrscheinlich, dass er durch einschlägige, wenngleich entgegengesetzte Lektüren von Ernst Jünger und Theodor W. Adorno darauf gekommen ist - hat es getan. Und herausgekommen ist ein ungemein reiz- wie gehaltvolles Büchlein.

Astrologie

Jäger ist ein vielseitig gebildeter Mensch, das kommt seinem Versuch zur Astrologie, vor allem aber dessen Lesern zugute. Allein schon der geschickt eingearbeiteten Zitate wegen - von Goethe bis Blumenberg, Benn bis Doderer, Musil bis Nietzsche lohnt die Lektüre. Angelegt ist sein sprachlich bestechend klarer, kultur- und wissensgeschichtlicher Gang durch die Tierkreiszeichen, die Himmelskörper, die Elemente, Konjunktionen und Konstellationen als ein Gespräch unter Freunden, himmels- und schicksalskundlich interessierte Serapionsgeschwister. Das schärft die Möglichkeiten zum intellektuellen Für und Wider.

Wer an diesem Gespräch lesend teilgenommen hat, hat nicht nur viel Bestaunenswertes zu dieser uralten und entsprechend intrikat ausgearbeiteten kulturellen Praktik erfahren, sondern auch eine Sensibilisierung für unser unablässiges wie unausweichliches Wahrnehmen und Denken in Konjunkturen und Konstellationen durchlaufen.
Die schöne Kunst, das Schicksal zu lesen. Kleines Brevier der Astrologie,Lorenz Jäger. Zu Klampen, Springe 2009, 144 S., 14, 80 Euro

Dialog

Wenn man nicht ans gestirnte Schicksal glaubt? Wir haben von Kind an durch das Urvertrauen „einen Kokon um uns gesponnen“, der alle statistischen Wahrscheinlichkeiten von uns fern hält, sagt Alexander Kluge. „Wir haben einen Glauben an uns“, setzt Joseph Vogl fort, „an individuelle beherrschbare Situationen“. Fällt Kluge bei, „an einen glücklichen Stern, an einen Schutzengel“. Oder, wieder Vogl, an unsere Willensfreiheit: Riskante Ereignisse treffen immer andere. Oder nehmen wir die Kontingenz, Ereignisse, die „mit einer verminderten Kausalität geschehen“, deren Grund man sich nur schwer zurechtlegen kann. Sagt Vogel. Fragt Kluge: „Gibt es glückliche und unglückliche Rhizome?“

Fragen wir: Kann man Dialoge aus dem Fernsehen, zumal von zwei so eilends Vorwegdenkenden, kann man die auch lesen? Nachlesen ja: 20 von insgesamt 44 liegen nun in Buchform vor. Aber statt hören und sehen auch lesen?

Ja! Diese „Fernsehgespräche“, von 1994 bis jüngst geführt, lassen sich lesen. Gut sogar. In ihrem dualen Monologisieren dröseln die beiden Radarköpfe an einem gemeinsamen Denkstrang. Der eine zieht nach hier, der andere nach da und beweisen dabei beachtliche Elastizität - anhand der Anlässe von Opern, Operetten, Dramen oder Filmen, Börsenereignissen genauso wie Amokläufen: Ökonomie und Kolonisation, Risiko und Terror, Vertrauen und Zukunftsoptionen, Homo compensator oder neuer Mensch. Sprühende Einfälle und gemächliche Begriffskaskaden, fulgurierende Gedankensprünge, mal rösselnd, mal echternachisch, meist Seitensprünge von Begriffen mit Bildern. Etwa so: „Kluge: So wie das Wasser, das Brackwasser in einem Mangrovenwald anders ist als das Wasser in unsern Körpern, anders ist als das Wasser in den Ozeanen oder Trinkwasser, so gibt es im Kapitalismus und im bürgerlichen Charakter... Vogl:...unterschiedliche Wasserqualitäten...“ Liquide und fruchtbar. Manchmal mit blitzschneller Halbwertzeit, oft genug aber haltbar.
Soll und haben. Fernsehgespräch, Alexander Kluge u. Joseph Vogl. diaphanes, Zürich/Berlin 2009, 336 S., 19, 90 Euro

Glücksspiel

Tiere würfeln nicht. Gott angeblich auch nicht. Bleibt der Mensch. Das seine Göttlichkeit verwürfelnde Tier? Seit gut einem Jahrzehnt zum Beispiel leben wir mit Richard Sennetts Diagnose über den „flexiblen Menschen“, der durch die immer wieder unsicheren Arbeitsverhältnisse lebensplanerisch auf Null zurück- oder gleich in ein anderes Spiel rausgeworfen, somit gezwungen werde, sein Leben als „Hasard zu spielen“. Eine kohärente Lebenserzählbarkeit sei da passé. Der Literaturwissenschaftler Peter Schnyder sieht in solchen Argumenten zwar eine lange Tradition, aber das alles gar nicht so kulturkritisch. Wo Huizinga in seinem Klassiker über den Homo ludens, den Glücksspielenden zum Tempel ludischer Glückseligkeit hinausjagte, steigt Schnyder eben diesem hinterher - und tief hinab.

Vom 17. Jahrhundert an verfolgt er, wie in religiös-moralischen bis hin zu medizinischen Interventionen das Glücksspiel verteufelt wurde, während doch Mathematiker, Philosophen und vor allem mal wieder die schlimmen Literaten in just jenem Zeichen des Glücksspiels ihre Profession und unser Wissen (wenngleich nicht unbedingt Glückseligkeit) voranbrachten. Cardano, Leibniz, Bernouilli sind ebenso Gegenstand der minutiösen Untersuchung wie Defoe, Sterne, Lichtenberg, Novalis, Goethe oder Balzac. Eine höchst gelehrte Untersuchung, dabei luzide und sprachlich mustergültig. Ein großer, glücklicher Wurf, aber nicht zusammengewürfelt!
Alea: Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels. 1650-1850" target="_blank">Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels, Peter Schnyder. Wallstein, Götingen 2009, 436 S., 36 Euro

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