Sachbücher: Von Zungen, Moral und den vergessenen Künstlern auf der Isle of Man
Sachlich richtig Einmal im Monat schreibt Prof. Erhard Schütz über die Sachbücher des Monats. Dieses Mal staunt er über Primaten, ein Quasselorgan und eine neue Erich-Kästner-Biografie
Volker Sommer gehört zu denjenigen Primaten, die mehr über Primaten wissen als irgend sonst ein Mitprimat. Überdies kann er sein Wissen ebenso unterhaltsam wie prägnant darstellen. In der von Judith Schalansky herausgegebenen Naturkunden-Reihe porträtiert der biologische Anthropologe Affen. Nach einem fulminanten Einstieg bekennt er, dass er die sogenannten Menschenaffen außer Acht lässt. Die Enttäuschung auf den ersten Blick erweist sich als Glücksfall. Denn so bleibt Raum für eine ungemeine Vielfalt, die man zwar zunächst nach Feucht- und Trockennasen sortieren, aber dabei keineswegs bändigen kann. In einem Wechselspiel von Systematik und Variation, entlang von Biotopen, Nahrungsaufnahme, Sozialem, Sex, Aufzucht der Brut und Alt
ex, Aufzucht der Brut und Altern und Sterben geht er das Spektrum von Verhaltensweisen durch. Eins, das man so kaum für möglich und das Spiel einer höheren Macht halten möchte, wenn er sie nicht schlüssig auf Adaptionen an die jeweiligen Umstände erläuterte. Bleibt ein doppeltes Staunen: Vor der menschennahesten Vielfalt der Natur und vor der Fähigkeit eines Menschen, die so prägnant vorzustellen.„Affen. Ein Portrait“ Volker Sommer Matthes & Seitz 2023, Naturkunden Bd. 094, 144 S., 22 €Zum Lobe von Florian Werners Buch über Zungen müsste man in Zungen reden (was nicht bedeuten soll, berauscht daherzuquasseln, sondern verständig in den verschiedensten Sprachen zu reden). Er, dem wir seit Die Kuh. Leben, Werk und Wirkung viele weitere unterhaltsame Sachbücher zu verdanken haben, kehrt insofern zu seinem Start zurück, als hier die nordische Kuh Audhumbla vorkommt, die die Menschen leckend aus den Eisblöcken befreite. Was man alles mit dem „Fühlhorn der Vernunft“ (Friedrich Schlegel) anfangen kann, dekliniert das Buch durch, ob lecken, schmecken, küssen, artikulieren. Auch das etwas heiklere Stechen und das grausige Abschneiden. Florian Werner versteht es, aus oft dröger Natur- bis Kulturwissenschaft in subtilen Tiefenbohrungen und verblüffenden Konstellationen Kurzweil mit Langzeitwirkung zu erzeugen. Nicht zuletzt nimmt für ihn ein, dass er weder mit Einstein noch den Rolling Stones ins Haus fällt, sondern sich bis gegen Mitte des Buches zurückhält. Ein Werk von delikatem Geschmack!„Die Zunge. Ein Portrait“ Florian Werner Hanser 2023, 215 S., 24 €Wahrscheinlich war er einfach zu schlau, um nur eine Meinung zu haben. Moralist sein heißt ja auch nicht, Moralin zu schwitzen, sondern die Sitten der Zeit zu beobachten und sich das Seine dabei zu denken. Das Schreiben ging Erich Kästner ohnehin von der Hand wie anderen nicht mal das Händeschütteln. Das alte Problem des Virtuosen. Man hat ihm übel genommen, dass er, der doch so über die Nazis gespottet hatte, bis zum bitteren Ende in Deutschland geblieben war. Ob der Mutter wegen, die abgöttisch an ihm hing wie er sklavisch an ihr, oder weil sein Erfolg gerade so einen Lauf hatte. („Kästner war auf dem Höhepunkt seines Ruhms, gerade als Deutschland am Tiefpunkt seiner Geschichte angekommen war.“) Jedenfalls hat er nicht bei Heil und Hetze mitgemacht, sondern gut unterhalten. Tobias Lehmkuhls Buch spürt dem Untertitel zufolge zwar Kästner im „Dritten Reich“ nach, sträflicherweise auf dem Titelblatt ohne Anführungsstriche, tatsächlich aber liefert er eine anschauliche Gesamtbiografie, die der akribisch umfassenden von Sven Hanuschek im Detail nachsteht, aber den Zeitgeist plastisch unterfüttert. Man könnte an einigen Stellen das Beckmesserlein wetzen, aber die paar Fehler sind durchaus verzeihlich im Blick darauf, dass dies nicht nur eine Biografie Erich Kästners, sondern darin zugleich auch ein Stück Betriebspsychogramm jener Jahre ist.„Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“ Tobias Lehmkuhl Rowohlt 2023, 303 S., 24 €Als England 1939 Hitlers Reich den Krieg erklärte, internierte es über 70.00 Deutsche und Österreicher, allermeist Juden, die dort Zuflucht gesucht hatten, auf meist menschenunwürdige Weise in Gefängnissen und Lagern. Auch wenn man bald einzusehen begann, dass das falsch war, hat es offizielles Bedauern darüber nie gegeben. Simon Barkin ist dem anhand des Lagers Hutchinson auf der Isle of Man nachgegangen, zentriert um Peter Fleischmann, der im Kindertransport den Schergen entkam, um dort interniert zu werden. Als Peter Midgley wurde er später ein bekannter britischer Künstler. Seine Anfänge fand er im Lager, in dem es eine ungewöhnliche Dichte gab an Filmleuten, Schauspielern, Künstlern, Musikern, Schriftstellern und Intellektuellen, wie dem linken Ökonomen Alfred Sohn-Rethel. Er erzählt detailliert und spannend von deren Schicksalen, von ihren künstlerischen Versuchen, von der wechselseitigen Anleitung und Bildung. Aber auch von Britinnen, die gegen solche Internierung protestierten und sich für die Gefangenen einsetzten. Beigefügt ist dem beeindruckenden Buch eine über vierzigseitige Liste mit Namen und Lebensdaten der bekannten und unbekannteren Insassen. Eine Person sei stellvertretend hervorgehoben: Rudolf Olden, Antinazi, Rechtsanwalt, Journalist beim Berliner Tageblatt und im Lager geradezu verehrt. Freigelassen, nahm er ein Schiff nach Amerika. Er und seine Familie kamen dabei um, als ein deutsches U-Boot es torpedierte.„Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen. Deutsche Künstler in Churchills Lagern“ Simon Barkin Aufbau 2023, 560 S., 30 €
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