Wahrer der reinen Lehre

Karriere Ernst Pipers Biographie über den NS-Ideologen Alfred Rosenberg

Im Buch-Essay Neue Menschen (2005) (Freitag 49/2005) reflektiert Stephan Wackwitz seine 68er-Verfallenheit an die organisierten BRD-Realsozialisten, indem er sie mit der seines Vaters an die Nationalsozialisten spiegelt. In dem hochgescheiten, wenngleich auch recht selbstgefälligen "Bildungsroman" spürt Wackwitz vor allem die Verquickungen der gnostischen Sehnsüchte nach dem "neuen Menschen" mit den manichäischen Neigungen der Adoleszenz auf. Am Schicksal von Heinrich Dannenberger, dem akademischen Lehrer von Wackwitz´ Vater, kann man schlaglichtartig zeigen, wie verstrickt diese entschiedenen Gutbösegläubigen waren, die man so gerne als Idealisten bezeichnet und ihnen die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit ihres Wollens zugute hält:

Der Historiker und überzeugte Nazi Dannenbauer hatte 1934 in Vortrag und Schrift erläutert, dass die Germanen ursprünglich aus Asien stammten - als ein besonders leistungsfähiges Bevölkerungs- und Kulturgemisch. Damit widersprach er den Vorstellungen, die Germanen, ein rassereines Hochmenschentum vom Nordpol, brächen alle Jahrtausende wieder auf, um - roh und kultivierend zugleich - die Welt von bösen Mischwesen zu reinigen. So etwa der Kern jener Rassengnosis, die "Hitlers Chefideologe" Alfred Rosenberg in vielfältigen Schriften um- und um formuliert hat, und die insbesondere im Schwarzen Korps, dem Organ der SS, ihren Widerhall fand. Dannenbauer wurde denn auch von der SS beruflich, wie das damals hieß, "kaltgestellt". Nach 1945 lehrte er wieder in Tübingen, während Rosenberg vor das Nürnberger Tribunal kam und am 16. Oktober 1946 hingerichtet wurde - freilich nicht unmittelbar seines Mythos des 20. Jahrhunderts wegen, sondern wegen der Untaten, die er ab November 1941 als "Reichsminister für die besetzten Ostgebiete" zu verantworten hatte.

Der fanatische Antibolschewik und Antikatholik war vor allem und zuerst ein obsessiver Antisemit. Kam er zwar mit seinen Attacken gegen das verjudete Römertum des Katholizismus bereits 1934 auf den vatikanischen Index, so war hier seine Wirkung doch nicht so verheerend wie seine manische Agitation gegen das verjudete Russentum. In seinem "Mythus" vom arischen "Seelenkampf" um die Weltherrschaft lieferte er nicht nur die parareligiöse Letztlegitimation des Vernichtungskrieges im Osten, sondern drängte sich zugleich unentwegt danach, in vorderster Linie praktisch, das heißt in dem Falle: bürokratisch-dekretorisch mitzuwirken. Gemessen an seinen Ambitionen, erscheint der Weg Rosenbergs ins und durchs "Dritte Reich" zunächst allerdings wie die Prozession von einer Demütigung zum nächsten Misserfolg. Geradezu symbolisch, dass Rosenberg gleich anfangs, beim so genannten Marsch auf die Feldherrenhalle, dicht hinter Hitler ging, beim Prozess aber nicht einmal angeklagt wurde. So schon kein Märtyrer der "Bewegung", mokierten sich die Gesinnungsgenossen, dass Rosenberg, der seine Geheimzirkulare mit Rolf Eidhalt, einem Anagramm aus Adolf Hitler, signierte, "mehr Schiss wie Vaterlandsliebe zeigte".

Als Stoff zur Tragödie eines "reinen Idealisten", der an der Realität scheiterte oder gar scheitern musste, taugt diese Biographie auch sonst nicht. Nicht nur war der Idealismus wenig rein, sondern überdies war Rosenbergs Weg der verfehlten Ziele gleichwohl eine Karriere. Eine für den Nationalsozialismus symptomatische zudem. In den letzten Jahren ist der Blick auf die Karrieren einer sachlich- technokratischen, ehrgeizigen wie pragmatischen "Berliner" Generation im NS-Staat gelenkt worden. In Ernst Pipers bislang umfassendster - mit weit über 800 Seiten allerdings auch arg strapaziöser - Darstellung zu Alfred Rosenberg wird der Blick zurück auf einen Typus der "ersten" NS-Generation gelenkt, auf jene weltanschaulich Umgetriebenen und egomanen Zirkelbrötler, wie sie sich vor allem im Münchner Milieu um 1918 fanden.

Der 1893 in Reval geborene Rosenberg, Balte deutscher Abstammung, hatte zunächst in Riga und dann während des Ersten Weltkrieges in Moskau Architektur studiert. (Seine Diplomarbeit verfasste er über ein für russische Verhältnisse brauchbares Krematorium.) 1918 kam er über Berlin, das ihn befremdete, nach München. Hier fand er die Nestwärme der einschlägigen Brut, wurde alsbald Chefredakteur des Völkischen Beobachters und "Chefideologe" der immer noch obskurantischen, in sich und mit anderen Obskuranten verfeindeten Partei. Eine immense, mehr getriebene als umtriebige Weltanschauungspamphletistik und die Gründung zahlreicher Zirkulare zeugt davon. Höhepunkt war 1930 sein Mythos des 20. Jahrhunderts, die hohe, als Philosophie firmierende Schau auf den ewigen Kampf des ario-heroischen Lichtmenschen mit dem jüdischen Finsterling.

Zur selben Zeit sah er sich als "Außenminister" der Partei, wurde freilich nach 1933 pragmatisch bei der Vergabe der Ministerposten übergangen, um Kompensation durch Leitung des "Außenpolitischen Amtes" der Partei zu erhalten, von wo aus er ebenso hektische wie nebensächliche Aktivitäten entfaltete. Noch krasser ging es auf seinem ureigensten Terrain, dem der weltanschaulichen Richtlinienkompetenz zu. Hier erfährt man nicht nur einmal mehr die entscheidungsmeidende Pfründenmultiplikation als zugleich "darwinistische" Ämterkonkurrenz im Hitler-Staat, sondern auch, wie Rosenberg unablässig daran arbeitet, sei es durch definitorische Erweiterungen des monströsen Titels seiner Dienststelle eines "Beauftragten für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP", sei es durch permanente Vorschläge zu neuen Superinstitutionen, die seiner Bedeutung als Wahrer der reinen Lehre gebührende Vollmacht über Erziehungs- und Künstewesen doch noch zukommen zu lassen.

Es gelingt ihm aber nicht, wie sein Erzkonkurrent Goebbels Ministerrang zu erhalten. Was immer er auch unternimmt, er gerät in Hakeleien mit anderen - Bouhler, Himmler oder Ley - und zieht stets den Kürzeren. Doch stets wird sein gekränktes Ego am Ende auch mit neuen Titeln oder dem Nationalpreis gepampert. Im Krieg wird er endlich auch noch "Reichsminister" - und die weitgehende reale Entmachtung in seinem Zuständigkeitsbereich, dem besetzten Osten, kompensiert er um so heftiger mit der Teilhabe an der antisemitischen Vernichtungspolitik. Schließlich mag ihm eine letzte Befriedigung gewesen sein, im Todesurteil durch die Alliierten endlich doch noch den Rang zugesprochen bekommen zu haben, nach dem er stets vergeblich gegiert hatte.

Welch Reiz, daraus einen Typus zu destillieren, gar im Blick auf dessen aktuelles Nachleben: Ein Typus des "Idealisten", der aus den temporären Niederlagen durch Pragmatiker seine dogmatische Überbietungsenergie zieht, scheint durch alle Lager hindurch noch immer virulent. Doch Piper hat solches nicht im Sinn. Ihm geht es um eine inverse Rehabilitierung Alfred Rosenbergs: "Unter der Meinungsführerschaft von Joachim Fest hat man nach Kriegsende im deutschen Sprachraum versucht, Rosenberg zum weltfremden Trottel abzustempeln". Ihn aus dieser Unterschätzung in die Galerie der Täterprominenz zu holen, ist Impetus des Buchs, das auf zehnjähriger Recherche beruht. Letzteres erklärt aber noch nicht gänzlich, warum man nicht nur erfährt, was der Richter zu Graf Arco sagte oder was die Lichtgestalt Fidus so alles gemalt hat, sondern auch noch einmal alles geläufige Wissen zum NS ausgebreitet wird: Piper muss Rosenbergs Weg möglichst ausgiebig mit dem weiten Feld der "Bewegung" und ihrer Zeitumstände umgeben, damit sein baltischer Idealmünchner stets auch dort noch im Zentrum der "Bewegung" erscheint, wo er einmal mehr an deren Rand geriet. Doch ist Piper redlich genug, seine Figur gelegentlich zu revidieren: "Er wollte viel und erreichte wenig." Auch das Wenige freilich war viel zu viel an Barbarei. So deutet in einer prägnanten Formulierung Pipers gerade die Karriere dieser Figur auf eine verheerende Konstellation: "Goebbels war ein Pragmatiker der Macht, Rosenberg ein Gefangener der Dogmatik." Nicht nur zu den beiden Kontrahenten, sondern genereller wird man wohl sagen können, dass das Gegeneinander von Pragmatikern und Dogmatikern sie zusammen so gefährlich machte.

Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. Blessing, München 2005, 831 S., 26 EUR


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