Was heißt Schändung?

Arrangement mit dem Ausnahmezustand Die Erinnerungen einer anonymen Berlinerin an den Nachkrieg in Berlin: »Anonyma«

Es kann so scheinen, als ob mit Jörg Friedrichs Spektakelbuch über den Bombenkrieg nun vollends die Andenkenindustrie für eine nostalgische, trotzig-weinerliche deutsche Opferstimmung ihre Konjunktur habe. Wie anders wäre zu erklären, dass nun ein Buch nach langen Jahrzehnten wieder aufgelegt wurde, das in den Hochjahren des Kalten Krieges zuerst in den USA erschien, um später erst in einem randständigen Verlag auf Deutsch nachgetragen zu werden, das Tagebuch einer anonymen Frau, das über die Monate der russischen Eroberung und Besetzung Berlins berichtete: Eine Frau in Berlin. Entsprechend die Reflexe: eine Chronik unablässiger Vergewaltigungen, »schonungslos«, »erschütternd«.

Während andere, berühmtere Erinnerungen, etwa von Margret Boveri oder Ruth Friedrich, stets nur die Vergewaltigungen der anderen ringsum notierten, protokolliert diese anonyme Frau um die Dreißig, ebenfalls gebildet, vorwiegend, was ihr selbst geschah. Das Tagebuch jedoch lediglich auf seine wahrlich zahlreichen, mit erschreckend kalter Lakonie aufgeführten »Stellen« hin öffentlich vorzulesen, würde ihm aber nicht einmal im Ansatz gerecht. Die »Stellen« sind zudem in der jüngsten Vergangenheit schon benutzt worden, zuletzt von Anthony Beevor in seinem monumentalen Buch über das Ende Berlins 1945. Was vielmehr das Unheimliche und Erschreckende ausmacht und das Buch aus der Jammerkonjunktur entschieden heraushebt, das ist viel mehr der Kontext dieser »Stellen«. Der ist so intensiv, dass er wie die romanhafte Verdichtung der ansonsten vielfältig zerstreuten Erinnerungsmomente, Situationen und Erlebnisse wirkt, intensiver zum Beispiel selbst als Beevors wahrlich episches Geschichtswerk. Die Intensität gewinnt es vor allem aus einer kalten Lakonie, einer bis zum Sarkasmus distanzierten Selbstbeobachtung. Sie hat etwas vom Nüchternheitsgestus und Kältepathos der an Hemingway geschulten Kriegsberichterstattung. Mithin von dem etwa, wie Walter Kiaulehn in Signal schrieb oder was Kurt W. Marek damals propagierte, ehe er als C.W. Ceram mit Götter, Gräber und Gelehrte den Archäologie-Beststeller schlechthin verfasste.

Ceram/Marek hat das Buch seinerzeit in den USA herausgebracht. Sein Nachwort vergleicht es mit Hamsun und Céline und beteuert seine Authentizität. Lediglich Namen und Ortsangaben seien so verändert, dass man die Identität der Schreiberin nicht erraten könne. Die Rechte am Tagebuch liegen bei der Witwe Mareks. So beschleicht einen zunächst das Misstrauen, es handele sich um die Erfindung eines Profis. Doch schnell bemisstraut man das Misstrauen - als Abwehr gegenüber dem Was - und entschieden mehr noch: wie - da berichtet wird. Wahrscheinlich ist das Wie überhaupt - und nicht nur hier - die wirkungsvollste Folge aus jenen Jahren: die wiederholte Sachlichkeit. Schließlich liest man bloß noch, um den Bericht über die drei Monate zwischen dem 20. April und dem 2. Juni 1945 endlich hinter sich gebracht zu haben.

Am Standrand, schon besetzt, während die Kämpfe langsam in Richtung Innenstadt vordringen, erleben die Frauen, wie nach den alliierten Bomben nun die russischen Soldaten buchstäblich über sie hinweggehen. Zu Beginn freilich funktioniert die Stadt noch immer, das Telefon, die Bahn. Es gibt noch Brötchen. Bloß Männer gibt es keine mehr: »Sie tun uns leid, erscheinen uns so kümmerlich und kraftlos. Das schwächliche Geschlecht.« Dann kommen die Russen. Der mehrfach zitierte, auch späterhin noch kolportierte Spruch »Lieber einen Russen auf dem Bauch als einen Amerikaner auf den Kopf« erfährt hier seine Probe. Poetische Betrachtung: »Der Akazienstumpf vor dem Kino schäumt über von Grün« ist ebenso schnell dahin wie das - nachgetragen prophetische? - Pathos: »Unser Schicksal rollt von Osten heran und wird unser Klima ändern, wie es einmal die Eiszeit tat.« werden schnell beiseitegefegt. Dabei wirkt ihre Parade der geklauten Fahrräder und Uhren zunächst eher belustigend. Doch dann die Vergewaltigungen: »Ach was, es hat Ihnen bestimmt nicht geschadet. Unsere Männer sind alle gesund.« Was kurz zuvor noch undenkbar war, wird zur abnormen Normalität: »Was heißt Schändung? Als ich das Wort zum ersten mal laut aussprach, Freitag Abend im Keller, lief es mir eisig den Rücken herunter. Jetzt kann ich es schon denken, schon hinschreiben mit kalter Hand [...]. Es klingt wie das Letzte und Äußerste, ist es aber nicht.«

Es geht um das, was man zuvor schon hinreichend übte, ums Überleben. »Hier muss ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leibe hält.« Sie hält sich an Offiziere. Fortan gibt es für die Vergewaltigungen wenigstens Lebensmittel im Tausch. »Angst- und Notgemeinschaften« bilden sich unter den Frauen. Man teilt sich die letzte Vaseline. Die deutschen Männer jammern oder liegen, wie Herr Pauli, der sich in Gemeinschaft der Schreiberin und der »Witwe« durchfuttern lässt, mit Migräne im Bett. Inzwischen unterscheidet man auch bei ›den‹ Russen. Ich »unterscheide die Übelsten von den Erträglichen, gliedere den Schwarm, mache mir ein Bild von ihnen.« Und: »Wieder ein völlig neues Muster aus der offenbar unerschöpflichen Mustersammlung, die uns die UdSSR da geschickt hat.« Bauernburschen bis Hochgebildete: Man säuft und zertrümmert Möbel. Man führt politische und philosophische Gespräche. Oder hört Werbeplatten von C

Was an dem Bericht besonders gefangen nimmt, ist die Plastizität, in der das erneute Arrangement mit dem Ausnahmezustand, der Übergang von den Bomben zu den Übergriffen geschildert wird, Normalisierung der Anomalie. Das Einüben von Ritualen genauso wie der Austausch von Erfahrungen: Das Bauernvolk scheue die Treppen, je höher, desto sicherer sei man. Überhaupt drüber zu sprechen, der »sachliche« Austausch von Zahlen. Die kollektive Bewältigung der kollektiven Vergewaltigungen. Wovor dann die heimgekehrten Beckmanns Draußen vor der Tür, wie hier der Freund Gerd am Ende, fassungslos jammernd zusammenbrechen oder sich davonstehlen werden.

Aber es ist nicht nur der Blick auf den eigensten Kreis zwischen Stube, Keller und Wasserpumpe, was das Buch so intensiv wirken lässt, sondern die Erweiterung des Horizonts in der unter diesen brutalsten Umständen schließlich doch befreiten Stadt. Besonders beeindruckend ein langer Fußmarsch von der Hasenheide nach Schöneberg - wie mit der Dokumentarkamera. Inzwischen heißen die »Schändungen« amtlich »Zwangsverkehr«, nach vier Wochen fährt die erste S-Bahn wieder, das normalisierte Anomale wird nun wieder anomal, dafür gerät man in eine tristere Normalität, indem man zum Trümmerräumen oder Waschen für die Russen abkommandiert wird. Fahnen der Sieger werden improvisiert und die ersten Glücksritter tauchen auf. Was aber bleibt, ist zum einen, im Blick auf Aischylos Perserklage: »Unser deutsches Unglück hat einen Beigeschmack von Ekel, Krankheit und ´Wahnsinn, ist mit nichts Historischem vergleichbar.« Und zugleich: »Bin erst mal für den Mann verdorben.«

Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Eichborn, Frankfurt am Main 2003, 291 S., 19,90 EUR

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