Einen damals populären Schlager, der behauptete, Berlin werde die schönste Stadt der Welt, zitierte Walther Rathenau 1899 im Titel seines Essays für die Zeitschrift Die Zukunft. Seine Antwort: „Spreechicago“ könne bei seinem Durcheinander und Eklektizismus allerlei werden, aber niemals die schönste Stadt der Welt. Ein Jahrzehnt später griff Karl Scheffler in seinem Buch Berlin – Ein Stadtschicksal das Verdikt auf, indem er beschrieb, wie Wilhelm Zwo versuchte, „aus dem formlos häßlichen Berlin mit den Mitteln des Scheins und eines toten Akademismus die ‚schönste Stadt der Welt‘ zu machen“.
Nach einem langen und scharfsinnigen Beweisweg durch Historie, Bevölkerung, Architektur, Wirtschaft, Künste und Stellung im Reich stand am Ende die seither plattzitierte Formel: „Man kann jedes Verhältnis zu Berlin gewinnen, nur lieben kann man diese Stadt nicht. (...) Es fehlt das konservative Grundelement, das einer lebendigen Liebe zur Stadt zur Basis werden könnte. (...) Berlin (ist) dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein.“
Verdammt also, eine denkbar deutsche Stadt zu werden, ganz im Sinne Nietzsches, der meinte, dass ‚wir Deutsche‘ „dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Wert zumessen als dem, was ‚ist‘“. Nun kein Satz zum BER, sondern aus Florian Illies’ ebenso elegantem wie scharfzüngigem Vorwort zur Neuauflage von Schefflers Großpolemik, dass nämlich diese Mesalliance von Dionysos mit der Personalratsvorsitzenden eines Westberliner Einwohnermeldeamts ein „Sehnsuchtsort der Pioniere und dann ganz bei sich, ganz Kolonialstadt“ sei, „wenn es Verheißung sein darf. Berlin scheitert immer, wenn es liefern muß“.
Die Stadt im Zukunftsfieber, die immer nur Fieber statt Zukunft bekommt. Was Scheffler 1910 analysierte, so Illies, gilt „hundert Jahre, zwei Weltkriege, vier deutsche Staatsgebilde später unverändert“. Die sprunghafte Narzisse Berlin ist, wie jede wahrhafte Metropole, von sich selbst absorbiert. Nur scheinbar paradox befasst sich diese von Zukunftswehen getriebene Stadt endlos mit der eigenen Vergangenheit. Die Zukunft kommt noch und liegt schon immer hinter uns. Die Wiederauflage Schefflers ist da keineswegs das einzige Indiz. Immer angesagt sind neben beliebigen Szeneoffenbarungen, die trotz der rasenden Verfertigungs- und Publikationsbedingungen beim Erscheinen schon wieder fadenscheinig sind, kulturhistorische Kuriositätensammlungen, sozusagen Übungen in Verstadtschlossung, deren Schaustücke zur Partymunitionierung wie zur präintellektuellen Rudelbildung dienen können.
Ein recht artiges Exempel hat Diane Arapovic zusammengestellt. Die Klappe will zwar, dass hier selbst Ureinwohner überrascht würden, aber die zeigen sich ja erstens nie überrascht und zweitens dürften sie heute in etwa derselben Zahl existieren wie am Ende des Dreißigjährigen Krieges, als man sie nur aus Versehen nicht umsiedelte – und so das Unheil seinen bekannten Lauf nahm. Aber es ist doch eine schöne Totenerweckung. „Berlin ist im wahrsten Sinne des Wortes auch eine Stadt der Toten. Über zweihundert Friedhöfe gibt es hier, mehr als in jeder anderen deutschen Stadt.“ Na siehste, da liegt unsere Zukunft! So widmet sich ein Beitrag dem ehedemigen Schandacker, heutigen Friedhof der Namenlosen, genauer: Friedhof Grunewald-Forst. Anderes gilt der Spree im spektakulären, plötzlichen Rückwärtsgang, den an den Bahnhöfen verschwundenen Wiegeautomaten, dem roten Marmor der Mohrenstraße, den Relikten der Rohrpost oder der Herkunft der Goldelse. Nach Durchgang der 36 Stücklein wirkt Berlin geradezu gediegen normalkurios. Eine Novität und doch von seinerzeit ist eine Erzählung unter dem seltsamen Titel Schlattenschammes und heischigen Untertitel „Berlin am Meer“. Nun gut, das spielt zur Zeit des zertrümmerten Berlin und erzählt, wie Benno Meyer-Wehlack alias Rolf Hellhoff im Frühjahr 1945 dem Krieg davon und ins kaputte Berlin lief, wo er im mühsam wiedereröffneten Theater Tribüne den Jungen für alles macht, eben den Schlattenschammes, den, der in der Synagoge, die nun kaputt ist, die Talgreste aus den Leuchtern kratzt und die Stühle zusammenstellt.
Viktor de Kowa, Karl Schönböck, Günther Lüders, Ilse Werner oder Will Quadflieg machten hier weiter oder fingen wieder an. Gegen den Hunger gab es Kultur und Bratkartoffeln mit Lebertran, als Liebe nur Missglücktes, statt Jugend Zwangserwachsenheit, wahrscheinlich die einzige Zeit, die nicht vom Werden träumte, sondern im Jetzt anzupacken gezwungen war.
Viel Verschwundenes
Was daraus entstand, war auf beiden Seiten der Teilung auch viel Schaufensterdekoration. Die Übergabe an den Westen hatte zur Folge, dass sie im Osten vielerorts verschwand. Nicht nur der Palast der Republik, sondern auch das Ahornblatt auf der Fischerinsel. Man muss viel Fantasie haben, es sich statt des heutigen Bürokastens vorstellen zu können. Der Führer durch Das rote Berlin wird darob immer mal wieder zornesrot, zeigt überhaupt grundständigen Trutz. Gleichwohl ist das ein instruktiver Gang durch einen zwar noch nicht ausgelöschten, aber vom Verschwinden bedrohten Teil der Geschichte, über Berlin hinaus.
Historische Stadtführungen sind hier ohnehin so eine Sache. Man sieht da immer auch viel nicht mehr Sichtbares. Die „Stadtbilderklärer“ pflegen dann Fotokopien in Klarsichthüllen hochzuhalten. Doch Bücher sind als Wiedervergegenwärtigungen das eindeutig bessere Mittel. Ein Glanzstück dessen ist E. T. A. Hoffmanns Berlin. Wiewohl damals noch sehr überschaubar, gelang es Hoffmann ja, dieses Berlin derart unheimlich und wunderbar zu machen, dass er selbst zur touristischen Attraktion wurde, wenn er vorzugsweise mit dem Schauspieler Devrient pokulierte. Michael Bienerts Buch führt aber nicht nur zum Paradestück, zum Gendarmenmarkt, wo sich Lutter & Wegner, das Schauspielhaus, Hoffmanns Wohnung und nahebei seine verhassten juristischen Arbeitsstätten befanden, sondern auch an alle die Orte, an denen seine Texte spielten. Das ist kein Buch fürs schnelle Unterwegs, eher eins des bedächtigen Rückzugs in Historie. Des Vetters Eckfenster, Hoffmanns letzter und schönster Berlin-Text, ließ zwei Vettern aus der Hoffmann’schen Wohnung auf das Markttreiben des Gendarmenmarkts blicken, wobei der nicht mehr schreibende Schriftstellervetter den schreibenden Nichtschriftstellervetter lehrte, zu schauen und zu erkennen: Statt bunten Treibens Personen und ihre Miniaturgeschichten.
Dem Abdruck der Erzählung in der Zeitschrift Der Zuschauer 1822 widmet sich der Band Zuschauer im Eckfenster. Dort ist der Text nun faksimiliert, nach allen Regeln der Kunst kommentiert, analysiert und interpretiert nachzulesen. Hoffmanns Markt war angefüllt mit Menschen verschiedenster Stände, Professionen, nationaler Herkünfte – und Manieren. Dreiste Straßenjungen, grobe Klötze, rohe Gesellen, streitende Marktweiber, aber, so seine lebensendliche Zuversicht, „das Volk hat an äußerer Sittlichkeit gewonnen“. Auch hier also schon die unentwegte Hoffnung aufs Werden – bis heute. Versichern sich doch alle Zugezogenen wechselseitig immer wieder, wie sehr sich der Umgangston von Verkäuferinnen, Kellnern oder Busfahrern zivilisiert habe, es gar zarte Anzeichen einer Servicefreundlichkeit gebe. Wird schon werden!
Bücher
Berlin – ein Stadtschicksal Karl Scheffler Vorwort von Florian Illies, Suhrkamp 2015, 222 S., 21,95 €
Schlattenschammes oder Berlin am Meer Benno Meyer-Wehlack Das Arsenal 2015, 176 S., 18 €
Honeckers Guckloch und das verschwundene Stück Kudamm. Berlins letzte Geheimnisse Diane Arapovic Rowohlt Berlin 2015, 256 S., 14,95 €
Das rote Berlin. Ein Stadtführer Frank Schumann (Hg.) Das Neue Berlin 2015, 96 S., 9,90 €
E. T. A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze Michael Bienert vbb 2015, 176 S., 24,99 €
Zuschauer im Eckfenster Nicola Kaminski, Volker Mergenthaler Wehrhahn 2015, 360 S., 48 €
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