„Woanders is auch scheiße“

Ruhrgebiet Der Bergbau ist fort, die Nostalgie ist noch da. Zwei Bücher erklären die Liebe für eine Region, die in der Abseitsfalle festhängt
Ausgabe 39/2021

Der Philosoph Wolfram Eilenberger, ehedem Chefredakteur des Philosophie Magazin und mit Zeit der Zauberer (2018) Autor eines Bestsellers über Philosophen, (dem ein Buch über vier Philosophinnen folgte), war vom Herbst 2019 an für ein Jahr „Metropolenschreiber RUHR“. Der Bild sagte er zum Amtsantritt, er sei besonders gespannt auf den „rätselhaften Transformationsprozess, den die Region durchläuft und der dem gesamten Kontinent bevorsteht“. Nun hat er sein „unbeflecktes Urteil“ in ein Büchlein gefasst, das es durchaus in sich hat. Gleich eingangs zitiert er den bis heute scharfsinnigsten kritischen Beobachter des Ruhrgebiets, Erik Reger. „Viele sprachen davon, wenige haben es gesehen, keiner hat es durchschaut.“ Nun denn. Eilenberger: „Das ‚Ruhrgebiet‘ ist ein sprachliches Zeichen ohne bestimmbaren Referenten.“ Die neueste Selbstermunterung als „Metropole Ruhr“ ist ihm ein weiterer Beleg in der Kette ungedeckter Formeln, von denen er am ehesten wohl noch „Pott“ oder „Revier“ gelten lässt. Insofern beißt er zwar nicht, aber zwickt doch gleich eingangs die Hand, die ihn fütterte.

Er kommt denn auch sofort auf den Verkehr zu sprechen, dessen „Zähigkeit“ dem Ruf der Region mehr geschadet habe als irgend andres. Ja, eine Metropole ohne halbwegs funktionierenden ÖPNV ist eigentlich keine. Als das Ruhrgebiet nach und nach seine Universitäten bekam, hatten die größere Parkplätze als Gebäudeflächen. Apropos Universitäten: Eilenberger wundert sich zu Recht, warum man sich im Ruhrgebiet unbedingt an den Industriedenkmälern festkrallt, die doch alle mehr oder weniger gleich aussehen, statt sich als die Region mit größter Hochschul- und Spitzenmuseumsdichte zu präsentieren. Von der Vielfalt an Naturangeboten zu schweigen. Er attestiert der Region einen „bleibenden Unwillen“, sich ihrer neuen Stärken symbolisch anzunehmen, rekapituliert dazu den schwierigen Transformationsprozess seit der Energiekrise. Er sieht illusionslos, dass dem Revier in allen Künsten „kein Werk wirklich identitätsprägenden Ranges“ vergönnt war, dass es sich gleichwohl als „außergewöhnlich identitätsfest“ erfährt. Dem geht er mit Simone Weil nach; der Sehnsucht nach Heimat und Verwurzelung hält er entgegen, das Ruhrgebiet sei „der wahr gewordene Entwurzelungs-Albtraum der industrialisierten Moderne als fossiler Kapitalismus“. Gleichwohl visitiert er auf der Suche nach den Identitätskernen vor allem die Literatur von Heinrich Böll über Frank Goosen zu Ralf Rothmann, in der er die Verunsicherung wiederfindet, die jüngere Generationen prägt, reflektiert kritisch den trotzigen Spruch: „Woanders is auch scheiße.“

Halb irre, halb tote Männer

Die „Flucht in den Dienstleistungssektor“ nach vorn wird von den nostalgisch als Identität erschriebenen Männermythen – Malocher, Schalke, Currywurst – nach hinten und unten gezogen. „Weder ist der heutige Pott das, was er einst war. Noch das, was er zu sein glaubt. Noch das, was er offenbar glaubt, auch in Zukunft sein zu sollen.“ In der Diagnose durchaus treffend. Doch was sieht der Autor? Taktisch geschickt, lockt er das Revier so zunächst in die Abseitsfalle, um es am Ende generös herauszupfeifen. Nämlich als Region, die zum Gutteil hinter sich hat, was den meisten anderen noch bevorsteht. Die Wendung weg von der fossilenenergetischen zur Wissensgesellschaft, die keine verzweifelt beschworene Regionalidentität mehr bräuchte. Als Brücken dorthin baut er der Region die Erinnerung an das zukunftsweisende „städteplanerische Gesamtkunstwerk IBA“, die Internationale Bauausstellung Mitte der Neunziger, sowie an das beeindruckende Kulturhauptstadtprojekt Ruhr im Jahr 2010 – es waren die gesamte Region einbeziehende, weitgehend dezentrale Projekte. Er verordnet dem Ruhrgebiet schließlich seine „freiwillige Auflösung“ als eigenständigem politischen Subventionsadressaten und den Abschied von der fixen Idee, „im Sinne seiner Bewohner weiterhin als solches existieren zu müssen.“

Das wäre zumindest ernsthaft zu diskutieren. So energisch Eilenberger im Großen fuhrwerkt, so schlampert ist er leider im Detail: Reger macht er zu Regner, der Regierungsbezirk heißt bei ihm badisch Arnsbach statt sauerländisch Arnsberg, in Essen macht er aus der Rüttenscheider die Rüdenauer Straße und dem Historiker Herbert verpasst er den Vornamen Jürgen statt Ulrich. Hoffen wir, dass das „vor Ort“ nicht daran hindert, die bedenkenswerten Vorschläge ernst zu nehmen!

Wenn Literatur ein seismografisches Instrument ist, dann könnte ein Band mit 25 Texten unter dem Titel wie weiter? die Probe auf Eilenbergers Vorschläge sein. Von der Zusammensetzung ist er repräsentativer als jedes Parlament – m/w/d, migrantisch, alterskohortenkuratiert, lokal ausgewogen wie in den Genres und der literarischen Qualität. Newcomer und überlokale Matatdore und -innen, wie Nora Gomringer, Lütfiye Güzel, Anja Kampmann, Mutter Beimer, Marion Poschmann, Frank Goosen, Thomas Gsella oder Dirk Kurbjuweit. Es dominiert freilich die Welt von gestern, die gar bis 1368 zurückreicht, indes bald nach Island auswandert. Oppa, Büdchen, die ewigen Staus der A40, der volle Mond von Wanne-Eickel (allerdings ironisch). Und Oppa prognostiziert beim Kabarettisten Fritz Eckenga 2028, dass alle die Tänzer und Opernsänger „vor Kohle“ umgeschult werden werden. Doch Omma will noch mal Ballett sehen, bevor der Pütt wieder aufmacht. „Trotzdem: Das beste Menschentum ist hier in Ruhrort“, heißt es bei Feridun Zaimoglu. „Das zuckt mir immer durch den Kopf, wenn ich halb irren und halb toten Männern begegne.“ Also: Weiter so!

Info

Das Ruhrgebiet. Versuch einer Liebeserklärung Wolfram Eilenberger Tropen 2021, 143 S., 16 €

wie weiter? 25 literarische aussichten zum ruhrgebiet literaturgebiet.ruhr (Hrsg.) Eichborn 2021, 222 S., 12 €

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