Wolfgangs Welt und Josephs Welt

Kopfgeburt Harald Martensteins Debüt-Roman "Heimweg" führt in einen Hinterhalt

Harald Martenstein eigens vorzustellen - das wäre wohl allzu unhöflich. Jedermann kennt und schätzt ihn als den Verfasser treffender Glossen, kluger Kolumnen und amüsanter Alltagsbeobachtungen, vor allem in der Zeit oder im Tagesspiegel. Das ist eine sichere Ruhmesbank. Was aber, wenn so einer unbedingt einen Roman schreiben will? Andere Großmeister der kleinen Form haben wohlweislich darauf verzichtet, Max Goldt und Alfred Polgar beispielsweise, Kurt Tucholsky hat es nicht getan und bis heute damit Vergnügen bereitet. Man argt ja immer, dass wer lange genug Kleines geschrieben hat, zum Langen und Breiten keinen Atem oder Takt hat. Dabei ist der Roman ohnehin eine so amorphe - oder soll man sagen: opportunistische - Form, dass man in seiner Geschichte so ziemlich alles findet, was man irgend finden will.

Harald Martenstein aber hat nun keine froh-frivole Liebeslispelei geschrieben, auch kein freches Gegenwartsbestiarium, sondern ausgerechnet einen Großeltern-Zeitgeschichts-Erinnerungsroman. Als ob wir davon nicht genug hätten! Immerhin geht es gleich in die Vollen: Großvater Joseph kommt um 1950 aus russischer Kriegsgefangenschaft heim und findet Großmutter Katharina, weiland als "Schönheitstänzerin" den Männern sowohl beruflich als auch privat zugetan, von einem Franzosen - wir sind in der französischen Besatzungszone Mainz - aus Eifersucht auf einen anderen Franzosen, nicht auf den von der Gefangenschaft arg entschönten Joseph - in den Hals geschossen vor. Der Großvater verbindet ihn sogleich mit Geschirrtüchern, stürmt mit der dem Franzosen abgenommenen Pistole in der Hand um Hilfe aus dem Haus und muss folglich erst einmal das Wiedersehen aufschieben, weil er als vermeintlicher Täter verhaftet wird. Obendrein denunziert ihn seine Frau, weil er die Tatwaffe seinerzeit einem erschossenen russischen Kommissar abgenommen und bei einem Heimaturlaub mitgebracht hatte.

Die Ausgangskonstellation ist also klar: Großvater will seine Frau zurück, Großmutter aber weiterhin ihr Leben genießen. Was daraus wird, das erzählt der Enkel: Großmutter arbeitet weiter als Animierdame in der Rheingoldschänke. Die gehört ihrer Schwester Rosalie, die wiederum Fritz mit dem Holzbein und dem magischen Goldzahn heiratet, der ihr aber nicht nur eine Syphilis andreht, die er sich bei Strichern geholt hat, und damit ihren Kinderwunsch ein für allemal erledigt, sondern durch Unterschlagungen in der Firma sie um Haus und Schänke bringt.

Großvater wird Geldbote einer Bank und gibt ansonsten den Hausmeister. "Er erfreute sich daran, als Hausmeister eine Respektsperson zu sein. ... Es war ein Respekt an der unteren Nachweisbarkeitsgrenze." Großmutter, die "auf keinen Fall so etwas Ähnliches wie eine Wohnung" werden will, hält sich Tiere, zum Beispiel eine Katze. Die wird vergiftet. Auf dem Tierfriedhof begegnet ihr der chevalreske Polizist Wolfgang. Da erkennt sie plötzlich, "dass es zwei Welten gibt, die einfache und die komplizierte, die schöne und die schwierige, die ritterliche und die grobe. Wolfgangs Welt und Josephs Welt." Kein Wunder, dass sie lieber in Wolfgangs Welt leben will.

Die allerdings ist, wie Wolfgang, eine Einbildung. Bald begnügt sie sich nicht mehr mit Wolfgang, sondern hat Fredy Quinn zu Gast, Rudolf Schock und Hans-Joachim Kulenkampff. Joseph, um nicht allein zurückzubleiben, versucht, sich mit dieser Menage zu arrangieren. Schon Katharinas Vater war der Räuber Heigl erschienen, worauf er seinen Sohn Otto tötete, als verrückt eingeliefert und später von den Nazis getötet wurde. Aber auch Joseph spielen Gespenster mit, freilich anderer Art; er wird vom russischen Kommissar und dem Jungen in seiner Begleitung, die er im Krieg ermordet hatte, in der Erinnerung heimgesucht.

Derart integriert Martenstein nicht nur Unterhaltungsillusionen und Schauergeschichten zugleich mit den verdrängten Bildern der Schuld in seinen Alltag der Fünfziger, sondern stellt dem auch noch die Diagnose: Schizophrenie. Doch belässt er es nicht bei diesem Urteil als Aburteil. Denn die Erscheinungen, die bei den Großeltern zu Gast sind oder sie heimsuchen, stammen aus den Medien, fungieren aber auch als Medien zwischen beiden. In einem Alltag, der die Extreme Liebe und Krieg hinter sich hat, vermitteln sie zwischen denen, die sich anders nichts mehr zu sagen hätten. Sie sind privat, was sie gesellschaftlich waren, soziale Bindemittel.

Aber mehr noch: Martenstein stellt dabei das so approbierte wie abgegriffene Dreigenerationen-Schema auf den Kopf, so dass es Hand und Fuß bekommt: Nicht nur Rosalie und Fritz haben kein Kind, auch Katharina und Joseph nicht. Woher aber dann der erzählende Enkel? Nun, man kann es wohl sagen ohne damit zu verraten: Der erzählende Enkel ist eine Kopfgeburt des Großvaters - seine Antwort auf Freddy und die anderen. Aber eben auch auf den von ihm ermordeten Jungen. Der imaginierte Enkel erzählt die Geschichte als Phantasma, als Schirm, der vorm Realen schützt, auch wenn er darin selbst noch von eben dieser Funktion der Phantasmen erzählt. Darin erscheint der Erzähler der Geschichte nicht nur als männliche Antwort auf die weiblichen "Geschichten", sondern es scheint auch durch, wie wenig diejenigen, die heute Großelternzeitgeschichte erzählen, souverän über "ihre" Geschichte sind. Sie werden (und das ist eine nicht zu unterschätzende Leistung dieses dicht erzählten Romans) vielmehr von hier aus erkennbar als selbst gesteuert - von der Großelterngeneration und deren Geschichte(n). Dass die Arbeit am Gedächtnis einer Gegenwart zu sich selber verhelfe, diese hochmögende Annahme, ist unser phantasmatischer Schirm vorm Realen. Hier wird er uns auf virtuose Weise ausgemalt und vorgezeigt zugleich.

Harald Martenstein: Heimweg. Roman, C. Bertelsmann München: 2007, 221 S., 18 EUR


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