Am 5. März 1953 starb Josef Stalin. Drei Jahre später verurteilte Chruschtschow in einer Geheimrede den stalinistischen Personenkult. Bald aber sorgte sich der Kreml, die Entstalinisierung könne außer Kontrolle geraten. Am 21. Oktober 1956 wurde Władysław Gomułka gegen den Willen der KPdSU zum ersten Sekretär des ZK der Polnischen Arbeiterpartei gewählt, die Sowjetunion drohte mit einer Militärintervention, Gomułka unterwarf sich. Am 4. November 1956 rollten die russischen Panzer nach Budapest, wo die Regierung unter Imre Nagy ein Mehrparteiensystem eingeführt und den Austritt aus dem Warschauer Pakt erklärt hatte. 1968 rollten die Panzer dann nach Prag.
Alle diese militärischen Interventionen in formal souveräne Staaten blieben ohne Sanktions- oder gar Interventionsforderungen aufseiten des Westens, denn die Sowjetunion agierte innerhalb der Einflusszone, die ihr auf den Konferenzen 1943 in Teheran und 1945 in Jalta zugesprochen worden war. Es herrschte der Kalte Krieg. In Europa markierte der Eiserne Vorhang eine klare Demarkationslinie. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erodierte der kommunistische Staatenblock. Die Sowjetunion unter Gorbatschow war nicht mehr bereit, in den Vasallenstaaten militärisch zu intervenieren, was auch die deutsche Wiedervereinigung möglich machte.
Zwischen dem 11. März 1990 und dem 25. Dezember 1991 traten 15 Unionsrepubliken aus der UdSSR aus. Für Putin ist dies die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Doch ihr ging eine andere Katastrophe voraus: der Zerfall des Zarenreiches am Ende des Ersten Weltkriegs. Die Sowjetunion versuchte, die imperiale Größe des Zarenreiches wiederherzustellen, doch das gelang nicht vollständig. Finnland und Polen wurden nicht Teil der Sowjetunion (Polen nur Mitglied des Warschauer Pakts) und die baltischen Staaten erst 1940 als Folge des Hitler-Stalin-Pakts. Die Ukraine, die in den Auseinandersetzungen, die dem Ersten Weltkrieg folgten, sowohl gegen Polen wie gegen Sowjetrussland unterlegen war, gehörte schon seit 1922 zur Sowjetunion.
Destabilisieren, kontrollieren
In den letzten Jahren hat Putin den Stalin-Kult in Russland massiv betrieben, im Gegensatz zu früher verteidigte er nun sogar den Hitler-Stalin-Pakt. Bestimmt ist es auch kein Zufall, dass kurz vor dem Krieg gegen die Ukraine die Organisation Memorial verboten wurde, die sich für Aufarbeitung des Terrors unter Stalin einsetzte. Putin sieht sich aber nicht nur als Nachfolger des Diktators aus Gori, sondern auch in der Nachfolge von Peter dem Großen, worauf seine Selbstinszenierung bei öffentlichen Auftritten hindeutet, die jeden der alten Zaren vor Neid erblassen ließe. Putins imperiale Ambitionen machen nicht halt an den Grenzen der Sowjetunion. Finnland und Schweden gehören seit 1995 zur EU, sind aber nicht NATO-Mitglied und hatten bis zuletzt auch keine Ambitionen, ihr beizutreten. Aber die Tatsache, dass darüber immer wieder einmal diskutiert wird, war schon Grund genug für Putin, den beiden Ländern vergangene Woche Militärschläge anzudrohen, wenn sie sich dem Bündnis anschließen sollten.
Putin hat die Sowjetunion immer wieder als „historisches Russland“ bezeichnet, obwohl es in Wirklichkeit ein Vielvölkerstaat war. Seine Politik zielte darauf, die ehemaligen Sowjetrepubliken von Russland abhängig zu machen, so wie Belarus, das nur noch auf dem Papier ein eigenständiger Staat ist. Wo dies nicht möglich war, versuchte er, die Staaten durch begrenzte Militäroperationen zu destabilisieren, moskaufreundliche Regierungen an die Macht zu bringen oder mindestens eine Annäherung an den Westen zu verhindern.
So gelang es Putin, im Zweiten Tschetschenienkrieg (1999 – 2009) das Land vollständig unter russische Kontrolle zu bringen, wobei etwa ein Drittel der Bevölkerung bei den Auseinandersetzungen ums Leben kam. Damals war Putin noch Ministerpräsident. Im Jahr darauf wurde er Staatspräsident und beseitigte die letzten Reste des unter Jelzin halbwegs funktionierenden Rechtsstaates. Seitdem regiert Putin, dessen Karriere beim KGB begonnen hatte, Russland diktatorisch mithilfe der Silowiki, einer ihm ergebenen Kamarilla aus Militärs und Geheimdienstleuten. 2008 hat Russland im Zuge des Kaukasus-Konflikts Südossetien und Abchasien aus Georgien herausgelöst und als unabhängig anerkannt, wodurch Georgien etwa 20 Prozent seines Staatsgebiets verloren hat.
Die territoriale Integrität der Ukraine war garantiert
Ein besonderer Dorn im Auge ist Putin aber eine unabhängige Ukraine. Die Ukraine ist nach Russland der größte Staat in Europa, ist reich an Bodenschätzen und hat eine historische Bedeutung als Kornkammer Europas. Nach dem Ende der Sowjetunion war die Ukraine die drittgrößte Atommacht der Erde. Im Memorandum von Budapest hat sich das Land 1994 verpflichtet, seine Trägerraketen zu verschrotten und die Sprengköpfe zurückzugeben. Im Gegenzug hat Russland, wie auch die USA und Großbritannien, die territoriale Integrität des Landes garantiert. Was von dieser russischen Garantie zu halten ist, wissen wir inzwischen. 1917 hatte Lenin die Unabhängigkeit der Ukraine ausdrücklich anerkannt – ein historischer Fehler, wie Putin sagt. Er hat seit Langem darauf hingearbeitet, diesen Fehler zu korrigieren. Als die Ukraine 2013 ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen wollte, hat Russland das mit massiven Wirtschaftssanktionen verhindert. Es folgte die Maidan-Revolution, der Moskau-hörige Präsident Janukowytsch verließ das Land. 2014 folgte die völkerrechtswidrige Annexion der Krim sowie die Destabilisierung der Regionen Donezk und Luhansk durch Separatisten, die durch irreguläres russisches Militär unterstützt wurden. Diese Gruppen terrorisieren bis heute die Bevölkerung der Ostukraine durch willkürliche Verhaftungen, Entführungen, Folterungen und Exekutionen. Das hat laut UN schon mehrere Tausend Menschen das Leben gekostet.
Wladimir Putin, der sich öfter als Hobbyhistoriker betätigt, verfasste 2021 die Schrift Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern. Radikaler als je zuvor bestritt Putin hier dem ukrainischen Staat jede Existenzberechtigung und bezeichnete die Ukrainer als „Russen“. Die Ukraine sei, ähnlich wie Belarus, erst durch die Sowjetunion geschaffen worden, dieser Fehler müsse revidiert werden, wollten USA und EU doch in der Ukraine ein „Anti-Russland“ errichten, wie die Maidan-Revolution gezeigt habe, und versuchten sie doch, die Russen in der Ostukraine zu vernichten. Schon damals drohte Putin mit der Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, die jetzt erfolgt ist.
In den letzten Tagen hat der russische Außenminister Sergej Lawrow wiederholt gefordert, die Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden, eine Anspielung auf den historischen Sieg über Nazi-Deutschland. Die russische Führung versucht damit, die in Russland immer noch wirkmächtige Meistererzählung vom Sieg über den deutschen Faschismus im „Großen Vaterländischen Krieg“ zu instrumentalisieren. Die russische Bevölkerung soll glauben, dass die Ukraine von „Faschisten“ beherrscht wird. Zwar gibt es in der Westukraine bis heute einen gewissen Kult um den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, der während des Zweiten Weltkriegs mit der deutschen Wehrmacht zusammenarbeitete, 1946 nach München ging und 1959 vom KGB ermordet wurde. Die Rechtsextremisten haben aber bei den letzten Parlamentswahlen in der Ukraine gerade mal zwei Prozent der Stimmen bekommen, das ist einer der niedrigsten Werte in ganz Europa. Angesichts der Tatsache, dass der ukrainische Präsident Selenskyj Jude ist und ein großer Teil seiner Familie im Holocaust ermordet wurde, ist die Forderung nach „Entnazifizierung“ von nicht zu überbietender Widerwärtigkeit.
Hoffen wir, dass dieser alt-neue Imperialismus, der dabei ist, die europäische Friedensordnung der letzten 75 Jahre zu zerstören, gestoppt werden kann.
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