Sagenhafte 808 Minuten dauert Mariano Llinás’ Film La Flor. Es ist der längste argentinische Film aller Zeiten. Nach ungefähr dem ersten Viertel wendet sich der argentinische Filmemacher mit einer Zeitansage an sein Publikum: Bis zum Ende seien es jetzt noch soundsoviele Stunden und Minuten. Der Hinweis auf die exzessive Dauer des Werks lässt sich dabei weniger als ein Wink an das Durchhaltevermögen der Zuschauer verstehen denn als ein schelmisches Meta-Moment in einem an Metaebenen reichen Epos. Im Unterschied nämlich zu anderen überlangen, kontemplativen Filmen, die ihre Kraft durch die Erfahrung von Zeit entfalten, gerät La Flor durch Ideenreichtum und Spiellust ins Schillern.
Llinás, der einleitend an einer Raststätte sitzend die dramaturgische Struktur des Films anhand einer Skizze erklärt, erzählt sechs zum Teil mittendrin abbrechende Geschichten, die jeweils an ein filmisches Genre angelehnt sind – zum Beispiel ein B-Movie mit einer Killermumie, eine Art Musical mit Mystery-Touch oder eine Film-im-Film-Erzählung. Im Zentrum stehen stets vier Frauenfiguren, die in wechselnden Rollen von Pilar Gamboa, Valeria Correa, Elisa Carricajo and Laura Paredes verkörpert werden (und deren sich über die neun Jahre Dreharbeiten hinweg verändernden Gesichter anzusehen ein großes Vergnügen ist). Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass Llinás mit La Flor den Begriff des Pastiches noch einmal ganz anders erfindet. Denn der Film unterhält kein wirklich stabiles Verhältnis zu seiner jeweiligen Vorlage, schlingert vielmehr unvorhersehbar zwischen Genrezitaten und Genreverfehlungen, gedrosselten und vorwärtstreibenden Tempi, konzeptueller Klarheit und labyrinthischer Unübersichtlichkeit. Im hinreißenden Spionageteil, der sich unter anderem zwischen London, Berlin und Moskau abspielt und das Genre des Agentenfilms auf das Skelett seiner Motiv- und Zeichenwelt reduziert, um es dann komplett neu zu aktivieren, beginnt das Erzählmaterial regelrecht zu wuchern.
La Flor zählte zu den Höhepunkten des 71. Locarno Festivals, dem es in diesem Jahr erneut gelang, cinephilen Interessen wie Publikumserwartungen gerecht zu werden. Beides vereint wurde einmal mehr in der Retrospektive, die dieses Mal Leo McCarey, einem etwas in Vergessenheit geratenen Regisseur des klassischen Hollywoodkinos, gewidmet war. Neben bekannten Werken wie dem „Laurel & Hardy“-Film Liberty (1929) und der hinreißenden Cary-Grant-Screwballcomedy The Awful Truth (1937) ließen sich zahlreiche Entdeckungen machen. Die schönste war vielleicht Make Way for Tomorrow (1937) – ein tieftrauriges Drama um ein altes Ehepaar, das sich nach dem Verlust des eigenen Hauses gezwungen sieht, an getrennten Orten zu leben.
Dieses 71. Filmfestival von Locarno war das sechste unter der Leitung von Carlo Chatrian, der damit seinen Abschied feierte, weil er im nächsten Jahr die Nachfolge von Dieter Kosslick bei der Berlinale antreten wird. So war der Blick auf das Festival natürlich nicht frei von spekulativen Prognosen. So viel lässt sich immerhin sagen: Chatrians kuratorische Agenda, die eher an Experimenten und ästhetischen Neujustierungen interessiert ist als an der Bebilderung von Themen, wird sich im Berlinale-Wettbewerb sicherlich fortsetzen.
Gleich mehrere Filme in Locarno erkundeten das fragile Konstrukt der Familie – etwa vor dem Hintergrund politischer Repressionen beziehungsweise neuer Freiheiten. Mit einem tollen Gespür für die Orchestrierung ihres umfangreichen Ensembles erzählt etwa Dominga Sotomayor in Tarde para morir joven von mehreren Familien, die sich nach dem Ende der Dikatur eine alternative Existenz am Fuße der Anden errichtet haben. Für ihre lebendige Inszenierung wurde die junge chilenische Filmemacherin mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Ziemlich überraschend vergab die Jury unter dem Vorsitz des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke den goldenen Leoparden an A Land Imagined des aus Singapur stammenden Regisseurs Yeo Siew Hua. Der Film handelt von einem Polizisten, der das Verschwinden eines chinesischen Wanderarbeiters aufzuklären versucht, dessen Spuren unter anderem in ein Internetcafé führen. Yeo verbindet die sozialrealistische Darstellung ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse – Schauplatz ist eine Baustelle für Landgewinnung in Singapur – mit dem Detektivfilm. Auch wenn die beiden Ansätze zusammen einen schönen Flow ergeben, wirkt der Rückgriff auf Versatzstücke des Neo Noir doch ein wenig verbraucht.
Schönheit, die schmerzt
Mit einer lobenden Erwähnung bedacht wurde Ray & Liz, das Regiedebüt des aus Birmingham stammenden britischen Fotografen Richard Billingham, der Ende der 1990er Jahre durch Aufnahmen seiner eigenen Familie bekannt wurde. Ray & Liz, auf 16mm im Academyformat gedreht, hält gekonnt die prekäre Balance zwischen verstörendem Sozialrealismus und absurder Fiktion. Ausgehend von einer Rahmenhandlung, in der Billinghams alternder Vater Ray allein in einem schäbigen Zimmer haust und sich mit gepanschtem Fusel zusäuft, driftet die Erzählung sanft in zwei Episoden aus seiner Kindheit und Jugend zurück; Richard selbst bleibt dabei eine Randfigur, während sein jüngerer Bruder Jason mehr und mehr ins Zentrum rückt. Mit dem sozialrealistischen britischen Kino und seinen ausformulierten Kausalbezügen hat Ray & Liz jedoch wenig zu tun, selbst wenn alles da ist: die Arbeitslosigkeit, der Sozialbau, die Lethargie, der Alkohol, der wüste Slang. Billingham geht es weniger um die Milieustudie als um das Hervorholen von Erinnerungsbildern: an die dicke kettenrauchende und dauerpuzzelnde Mutter, an die lapprigen weißen Toastscheiben, die abgeblätterten Tapeten und Blumengestecke und Kitschbilder. Mit großartig komponierten Bildern, einer satten Farbgebung und einem bedingungslos emphathischen Blick auf seine sich immer wieder zärtlich zugewandten Eltern trotzt Billingham der von Vernachlässigung und Gewalt geprägten Kindheit eine fast schmerzhafte Schönheit ab.
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