Vor 38 Jahren betrat der französische Filmemacher und Fotograf Raymond Depardon zum ersten Mal mit der 16-mm-Kamera in der Hand eine psychiatrische Einrichtung – und wurde trotz Drehgenehmigung nach weniger als zwei Minuten wieder hinausgeworfen. „Wer hat Sie hineingelassen?“, fragt ein Arzt sichtlich aufgebracht zu Beginn von San Clemente (1982), während sich Depardon verhaspelt weiterfilmend zur Tür bewegt, die schließlich hinter seiner Tonfrau Sophie Ristelhueber zugeschlagen wird.
Schmerzhafte Verwahrlosung
Wenn die Kamera in Depardons aktuellem Film 12 Tage anfangs nun sichtlich ungestört und mit einer gleichmäßigen, kontrollierten Bewegung minutenlang durch die Korridore einer psychiatrischen Klinik in Lyon gleitet, wird darin nicht nur eine filmästhetische Entwicklung sichtbar, die in der immersiven, unmittelbaren Sprache des Direct Cinema kein adäquates Ausdrucksmittel mehr sieht. Mehr noch lässt sich an den beiden Filmen San Clemente und 12 Tage eine Geschichte der Psychiatrie ablesen – mit Urgences (1988), Depardons Einblick in die Notfallaufnahme der psychiatrischen Abteilung eines Pariser Krankenhauses, als Verbindungsglied. Und da 12 Tage an einem Schnittpunkt von Psychiatrie und Justiz angesiedelt ist – es geht um die seit 2013 gesetzlich verankerte öffentliche Anhörung von zwangseingewiesenen Psychiatriepatienten vor Gericht nach einer Frist von eben zwölf Tagen –, müsste man eigentlich noch eine andere Arbeit zu der Trilogie hinzuzählen: Délits fragrants (1994), ein Institutionenporträt, das 14 Verhöre von auf frischer Tat ertappten Personen in den Kellerbüros des Pariser Justizpalasts dokumentiert.
Bereits 1977 hatte Depardon, der lange Zeit für die Pariser Agentur Dalmas (später wechselte er zu Magnum) als Bildreporter in Krisengebieten unterwegs war und 1974 seinen ersten langen Dokumentarfilm über den Präsidentschaftswahlkampf von Valéry Giscard d’Estaing realisierte, für eine Fotoreportage eine Reihe von psychiatrischen Einrichtungen in Italien besucht, darunter auch die auf der kleinen Insel San Clemente gelegene Anstalt vor Venedig.
Initiiert wurde das Projekt von dem italienischen Psychiater Franco Basaglia, Leiter einer Klinik in Triest und seit Beginn der 1960er Jahre einflussreichster Vertreter einer radikalen Psychiatrie- und Gesellschaftskritik (als Gegner der Anstaltspsychiatrie ist Basaglia auch eine wichtige Randfigur in Gerd Kroskes Film SPK Komplex). San Clemente, zusammen mit Frederick Wisemans Titicut Follies (1967) eines der bedeutendsten filmischen Zeugnisse der Institution Psychiatrie, stellte Michel Foucaults Schriften über Wahnsinn und Gesellschaft Bilder zur Seite.
Doch auch wenn die Verwahrlosung in diesem von der Gesellschaft abgespalteten „anderen Raum“ (Foucault klassifiziert die Klinik unter den sogenannten „Abweichungsheterotopien“) anzusehen mitunter schmerzhaft ist, sind dem in rohen Schwarz-Weiß-Bildern gedrehten Film Empörungsrhetorik und agitatorische Appelle gänzlich fremd. Anders als Wiseman interessiert sich Depardon mehr für die Menschen als für die Institution, und vielleicht hat sich die leichtfertig behauptete Figur des „teilnehmenden Beobachters“ selten so wahrhaftig und zärtlich gezeigt wie hier.
Auch wenn die Anwesenheit von Depardon und Ristelhueber überwiegend missachtet wird, kommt es immer wieder zu mal ausdrucksstarken, mal lapidaren Interaktionen: Die Gefilmten gucken, reden, gestikulieren direkt in die Kamera, manche grüßen nachbarschaftlich, wenn sie vorbeigehen. Es kommt auch vor, dass eine Handtasche in Richtung Kamera geschleudert oder das Mikrofon festgehalten wird.
Verrücktheit mit Würde
Vor allem aber gibt der Film der Verrücktheit ihren Raum – und das stets mit Würde und Anstand. Und mit Zeit. Einmal schwenkt die Kamera minutenlang mit den manischen Bewegungen eines Mannes mit, der, ein vor sich hin dudelndes Kofferradio über der Schulter, einen nackten Raum immer wieder abschreitet. Kurz nach den Dreharbeiten wurde das 1873 in den alten Klostergemäuern eingerichtete Krankenhaus im Zuge der von Basaglia initiierten Psychiatriereform geschlossen.
In Urgences steht die Interaktion zwischen Arzt und Patientin im Mittelpunkt – und vor allem: das Sprechen. Mit formaler Klarheit konzentriert sich Depardon auf das Zusammenspiel von Frage und Antwort, subjektivem Erleben und medizinischer Einschätzung, wenn er in schmucklosen Räumen Untersuchungsgesprächen beiwohnt: Erzählungen von Alkoholikern, paranoiden Schizophrenen, Depressiven oder auch vom Arbeitsleben Überforderten wie dem Busfahrer, der im Pariser Straßenverkehr einen Nervenzusammenbruch erlitt und seinen mit Fahrgästen vollgepackten Bus an der Place de l’Opéra abstellte.
12 Tage schließt an die Grundstruktur von Urgences an, das visuelle Vokabular ist jedoch weitaus reduzierter. Von wenigen Aufnahmen abgesehen – Flure, eine Fixierliege, der Innenhof, die Klinik von außen – beschränkt sich der Film auf drei Kamerapositionen im Gerichtsraum (jeweils Großaufnahmen von Patient und Richter, hinzu kommt eine Totale). Die Aufmerksamkeit bei den insgesamt zehn Anhörungen (jährlich durchlaufen rund 90.000 Menschen die zweimal wöchentlich stattfindende Prozedur) liegt auf der jeweils sprechenden Person, wobei den Zwangseingewiesenen tatsächlich so etwas wie ein verstärktes Rederecht zuteilzuwerden scheint.
Auf diese Weise erfährt man trotz des standardisierten juristischen Formats, das relativ zügig abgewickelt wird, erstaunlich viel von ihren Geschichten und ihrem Schmerz. Dabei geht Depardons sachliche Methode keineswegs auf Kosten der Empathie, im Gegenteil: Die distanzierte, klare Bildanordnung blendet alles aus, was nicht unmittelbar zu Rede, Blick und Körpersprache gehört.
Bis auf eine junge Mutter, der allerdings die Trennung von ihrer zweijährigen Tochter sichtlich zu schaffen macht, möchte niemand freiwillig in der Klinik verbleiben. Weder die 37-jährige Frau, die zum wiederholten Male daran gehindert wurde, aus dem Fenster ihrer Wohnung zu springen, noch der ausgemergelt aussehende Mann, der der Verhandlung kaum folgen kann, weil die Stimmen in seinem Kopf zu viel Lärm machen. Noch der vom Drogenkonsum gezeichnete 20-Jährige, der in der Nachbarwohnung islamistische Terroristen mit Kalaschnikows ausfindig gemacht haben will und mit dem Versprechen abtritt, Fußball-Profi zu werden und die Psychiatrie mit Geldspenden zu unterstützen.
Auch ein Mann, der bereits seit drei Jahren in der Geschlossenen lebt und sich keiner Störungen bewusst ist, möchte die Klinik so schnell wie möglich verlassen, weil draußen wichtigere Aufgaben auf ihn warteten. Unter anderem plant er, eine politische Partei zu gründen, die die Psychiatrie abschafft. Kurz darauf erfährt man, dass er seinen Vater getötet hat. Die Richter, zwei Männer und zwei Frauen, folgen im Wesentlichen den ärztlichen Empfehlungen, bei allen Fällen im Film entscheiden sie für den Verbleib in der Klinik. „Danke für den Machtmissbrauch“, gibt einer zum Abschied mit.
„Der Weg zum wahrhaftigen Menschen führt über den Irren“, heißt es mit Foucault zu Beginn des Films. Wie porös die Grenzen zwischen Verrücktsein und Normalität mitunter sind – und wie eng das Verhältnis von Wahnsinn und Gesellschaft –, zeigt die Geschichte einer Frau, die während der Arbeit bei einem bekannten französischen Telefonanbieter heftig zu weinen anfing und von den Kolleginnen zwangseingewiesen wurde. Ihrer Aussage, sie leide unter der Arbeit, steht die Diagnose „Verfolgungswahn“ gegenüber. Sehr bestimmt kritisiert sie die unverhältnismäßigen Maßnahmen bei ihrer Einweisung. Sie sei sehr aufgeregt gewesen, zitiert der Richter aus den Akten. „Meine Vorstellung von Aufregung ist eine andere als die der Ärzte.“
Info
12 Tage Raymond Depardon Frankreich 2017, 87 Minuten, Start: 14. Juni
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