Bitte ein Beck

Gruselroutine Skandinavische Krimis sollten sich wieder auf ihre sozialkritische Tradition besinnen
Ausgabe 45/2018

Neben Krimis in Städten und Provinzen, Nordfriesland und auf Zypern, gehören europäische Sammelgebiete zu den Tatorten blutiger Morde und ihrer Ermittlung, allen voran der skandinavische Krimi. Dabei bleibt „skandinavisch“ eine ebenso vage Chiffre wie „südländisch“ oder „osteuropäisch“. Das ist Absicht, den Rest soll die Imagination der Leser erledigen, übersetzt wird hier entsprechend beliebig, im Englischen heißt das niemanden verstörend nordic crime.

Überwindet der Krimi mit einem großzügigen Umriss kompakter Teilkontinente die nationalen Klischees, die in der globalisierten Welt nicht mehr passen, abgedroschen wirken? Die der Liebe zugeneigte Französin, der in seine Nazigenealogie verstrickte Deutsche, der wohl temperiert singende Italiener? Sind nationale Referenzen heute diskreter, nicht mehr ganz so grenzgenau verwoben, um sie weiträumiger aufrechtzuerhalten? Man denke an die Uniform der dänischen Ermittlerin Sarah Lund, den Strickpullover mit dem norwegischen Muster. Der Pulli ist undenkbar in einem mediterranen Krimi, dadurch aber topografisch unverwechselbar.

Die schiere Masse an Polit-Thrillern, mörderischen TV-Serien, Parodien, True Crimes und Verfilmungen erklärt sich durch die vielfältigen Funktionen, die der Krimi heute übernimmt. Er stellt Gegenden touristikkompatibel dar, bietet Gruselroutine, liefert belletristische Information über weltweite agierende kriminelle Netze, es wird sogar gekocht. Krimis vermessen kosmopolitische Lebensart, sie formulieren feine Unterschiede und kritische Standpunkte zu gesellschaftlichen Fragen.

In seiner sozialkritischen Spielart war der Krimi aus Skandinavien in Zeiten sozialliberaler Regierungen ehemals ein Vorreiter. Maj Sjöwall und Per Wahlöö können als Gründer investigativer Krimis, die heute die Unterscheidbarkeit von Fiktion und Realität neu verwischen, gelten. Die Journalisten haben mit der Figur Martin Beck den Krimi in den 70er Jahren in der Absicht politischer Aufklärung genutzt. Erst Henning Mankells Kriminalkommissar Kurt Wallander, der in die Fußstapfen des Kommissars Beck der Sjöwall/Wahlöö-Reihe trat und der in der südschwedischen Kleinstadt Ystad ermittelte, verengte den Horizont wieder auf einen Kauz und skrupulöse Fragen der persönlichen Moral.

Zwei Neuerscheinungen können die Markenzeichen skandinavischer Krimis bestens aufzeigen, gerade weil sie in ihrer Machart grundverschieden sind. Blut der Hirsche, aus dem Schwedischen, ist ein reißerischer Global-Crime-Krimi, der hektisch, in Whatsapp-Sätzen und im Tagebuchformat, erzählt. Jede Minute zählt. Zack Herry übernimmt seinen dritten Fall und muss oft schnell laufen, auch, weil viel geschossen wird.

Dagegen ist der 14. Fall der finnischen Maria Kallio Das Ende des Spiels für ein herbstliches Rotwein-Wochenende geschrieben. Ganze und lange Sätze, ausführliche Schilderungen, die von Hintergründen berichten. Das Autorenduo Kallentoft und Lutteman liefert in einem journalistisch-belletristischen Pakt Teamwork unter Doppel-Profis, während die Kallio-Reihe von Leena Lehtolainen den Erfolg des Slogans „Jede-kann-schreiben-werden-Sie-Autor“ dokumentiert. Mit großer Regelmäßigkeit ermittelt Kallio seit 1993, Fall für Fall, alle Folgen wurden hervorragend von Gabriele Schrey-Vasara übersetzt. Eine Verfilmung ist nicht geplant.

Norden ist morden

Zack Harry / Das Blut der Hirsche Mons Kallentoft, Markus Lutteman Ulrike Brauns (Übers.), Tropen 2018, 397 S., 14,95 €

Das Ende des Spiels. Maria Kallio ermittelt Leena Lehtolainen Gabriele Schrey-Vasara (Übers.), Rowohlt 2018, 352 S., 10,99 €

Kommissar Martin Beck Maj Sjöwall, Per Wahlöö aus dem Schwedi-schen von Johannes Carstensen und Eckehard Schulz, Stockholm 1966–1975, Rowohlt 1965-1975, 1994, 2008, 10 Bände

Mankell über Mankell: Kurt Wallander und der Zustand der Welt Kirsten Jacobsen, Lutz Volke (Übers.) dtv 2015, 336 S., 10,95 €

Forbrydelsen (Kommissarin Lund) TV-Serie, Regie: Birger Larsen u.a., Dänemark 2007 – 2012, 3 Staffeln, 40 Episoden. DVD, Edel Germany 2016, 2235 Min.

Die Brücke. Transit in den Tod Henrik Georgson (Regie), Schweden/Dänemark/Deutschland 2011 – 2018, 4 Staffel, 38 Episoden. DVD, Edel Germany 2016, 1764 Min.

Fallet Erik Hultkvist, Rikard Ulvshammar (Regie), Schweden 2017, 1 Staffel, 8 Episoden, 240 Min.

Blut der Hirsche spielt in Stockholm und sampelt alles, was krimitauglich ist. Das sind krasse Bilder und idyllische Landschaften. Neu hinzu kommt die Stimmlage des Tragischen, die als Gegengewicht das Lifestyle-Kolorit ergänzt, das weder die Rick-Owens-Lederjacke noch den Bollinger zu erwähnen vergisst und damit nostalgisch an die Produkt-Gläubigkeit der 1990er erinnert. Schwedische Atmosphäre verschafft sich der Krimi durch gustavinische Inneneinrichtungen, skandinavische durch ein entsetzlich aus dem Ruder laufendes Mittsommerfest und Erinnerungen an Utøya, globale durch eine eilig aufzufindende Crystal-Meth-Bande, eine Filiale des korrupten Familienunternehmens in Bangalore und Herkunftsorte einzelner Figuren in Kurdistan und Marokko.

Da ganz Schweden klein ist, überschneiden sich die Kreise rasch, zu denen die Irrsinnstat einer Party führt. Die Romanze von Zack, dem Hardboiled-Kriminaler, der mal Junkie war, mit der Verlobten Mera, die wilde Lust mit der unbekannten Hebe und die Informationen von Abdula, dem Jugendfreund, der ein smarter Dealer wurde, gehen ineinander über, um den Fall von vier toten Jugendlichen zu lösen und die Verbreitung einer Designerdroge zu stoppen. Offen bleibt, ob der Niedergang von Sitten und Gebräuchen auf die obsessive Gier aller zurückgeht, oder nur auf eine Jugend außer Kontrolle.

Das Ende des Spiels ist ein klassischer Whodunit, aus der Ich-Perspektive. Maria Kallio ist Mutter, Partnerin und muss mit Katzen leben. Der Mord, den sie aufklären soll, ist der an einem Opfer, das eine Täterin war. An ihrem ersten Tag in Freiheit, nachdem sie eine Sexualstraftat verbüßt und das Gefängnis verlassen hat, wird Tuula Lahti-Haapala mit einer Fahrradkette auf einem Verkehrsübungsplatz ermordet. Kallio ermittelt an einem unspektakulären Ort, im finnischen Espoo. Ähnlich wie etwa in Norrbacka verlassen viele Krimis die urbanen Zentren freiwillig, die Ermittler radeln zur Arbeit, gehen zu Fuß, das natürliche Milieu dieser Krimis, die auf besondere Weise mit der Harmlosigkeit spielen, ist das der Brettspielabende.

Kaum ist zu entscheiden, welche Krimi-Taktik klüger ist: die der geordneten Gardinenhäuslichkeit, in der das Aufbrechen der Klischees mühelos gelingt, von der blonden Hauptmeisterin Johanna Al-Sharif über sexuelle Belästigung durch die Zahnpflegerin bis zu Vätern, die zu Hause bleiben, wenn die Mutter zur Arbeit muss, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Oder ob es die Macher-Strategien sind, die auf Schocker setzen und eindringliche Warnungen aussprechen, um den Leser zurückzuwünschen in sein gefahrenfreies Steinzeitgehäuse. Es ist kein Zufall, dass die Überbetonung brisantester Risiken einhergeht mit der Erinnerung an archaische Bedürfnisse und Riten, an das Jagen und Fischen.

Jenseits von Sauna und Fjord

Die breite Schnittmenge beider Krimis liegt im social life, jenseits von Sauna und Fjord. Als Trivialliteratur ziehen sie für ein breites Publikum zuerst einen engen Kreis und setzen bei den Allernächsten an, der Familie. Auch dieses Thema, dass Gemeinschaften von innen heraus sich am gründlichsten zerstören, ist skandinavisch fundiert, durch Filme des Dogma-Kinos. Eine Umdeutung des Familienkrimis wird nötig, nämlich statt „quer durch die Familie konsumierbar“ zu sein, geht es nun sehr viel identitätspolitscher zu, das zeigt auch die norwegische TV-Serie Freispruch.

Überhaupt. In TV- oder Thriller-Serien werden die Gemeinschaften weiter und stellen, als gesamtskandinavisches Anliegen, neue Fragen nach Grenzen, nach Männern und Frauen und nach Integration. Ohne in exotischen Gefilden zu schwelgen, kreisen sie engmaschig um christlichen Extremismus oder vandalisierenden Tourismus, begeben sich an Landesgrenzen, ob schwedisch-dänische oder norwegisch-russische, und zwingen ihr Personal zur Kooperation statt Eigenbrötlertum. Die vier Staffeln umfassende Serie Die Brücke – Transit in den Tod erzählte uns all das eindrücklich von 2011 bis 2018. Die lebenslange Integrationsleistung braucht es nicht, zeigt etwa das Opus von Jussi Adler-Olsen, in dem der sozial apathische Carl Mørck und der Immigrant Hafez el Assad kooperieren. In Befragungen muss nämlich Assad das Gespräch für beide führen und gleicht die Grobheiten des Chefs aus.

Worauf zeigt der skandinavische Krimi, wenn er über nationale Grenzen hinwegschaut? Auf Götter, auf Sagen und Mythen? Auf die lähmende Starre, die das Scheitern europäischer Projekte auslöst? Oder darauf, wie spannend und anspruchsvoll ein Krimi sein könnte, wenn er die merklichen Veränderungen ausmalt, die sich ergeben, sobald Migration so selbstverständlich wird wie Sesshaftigkeit und vor allem selbstverständlicher als gegenseitige Ausbeutung. Dann könnte sich in der Krimimasse neben grausamen Todesarten und Aufdeckungsrätseln auch wieder die Sozialkritik ernsthaft behaupten.

Bilder des Spezials

Ben Zank wurde 1991 geboren, er lebt in New York City. Mit 18 entdeckte er die Fotografie, als er auf dem Dachboden seiner Großmutter eine Pentax ME Super fand. Eigentlich ist er Journalist, aber oft findet er mit der Fotografie besser zu seiner Sprache. Anzüge, das sind kühle Bilder voll monochromatischer Spannung, die ein diffuses Gefühl von Intrigen, Verlassensein und Ereignis hervorrufen. Die Figuren sind gesichtslos, anonym, ihre Aktionen choreografiert und undurchsichtig. Zank ist inspiriert vom Surrealismus René Magrittes, er verwendet die Symbole der Epoche – einen Hut mit breiter Krempe oder ein Fahrrad. Zu sehen ist eine Noir-Traumlandschaft, die Fragen nach der Art der eingesetzten Symbole aufwirft: Sind sie eine Allegorie? Zank sagt: „Jedes Bild ist ein eigener kleiner Roman, den jeder auf seine Weise lesen kann.“ Mehr Information auf benzank.com

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