Finstere Herzen

Krimi Dominique Manottis „Marseille.73“ zeigt eine rassistische Gesellschaft – mit historischem Weitwinkel
Ausgabe 46/2020

Es gibt mehrere Erklärungen dafür, woher der Name „Pieds-Noirs“ kommt. Bezeichnend ist, dass die Füße der „Schwarzfüße“ in der Regel heller waren als die der Bewohner der nordafrikanischen Kolonien unter französischer Herrschaft, Tunesien, Marokko und Algerien, die ihnen den spöttischen Namen gegeben hatten. Kamen sie als Siedler aus Portugal oder Spanien, dann war das auch egal, in Nordafrika waren sie Pieds-Noirs. Eine der Überlieferungen zeigt auf die Schuhe, um die Schwarzfüße zu erklären. Damit ist die Kolonisierung des Maghreb, in deren Verlauf Europäer dort ansässig wurden, gleich mit erklärt, auch wenn es nicht nur das Militär war, das mit Stiefeln ins Land kam. Nordafrikaner trugen seinerzeit keine schwarzen Schuhe, bis in die 1960er-Jahre waren sie ohne militärische Macht. Auch nach der politischen Unabhängigkeit blieben die Pieds-Noirs die Schwarzfüße. Viele gingen nach Marseille, der südlichsten Metropole Frankreichs, vis-à-vis von Algier, von dort aus ließ der Blick übers Meer den algerischen Küstenrand zumindest erahnen.

Diesen Blick genießt die Familie Khider. Aus Oran ist auch sie aus dem Unabhängigkeitskrieg nach Marseille geflohen, drei Söhne und ein Vater blieben übrig und wohnen in der arabischen Siedlung, in einer Platte, hoch über der Stadt. In Dominique Manottis Krimi Marseille.73 stehen die Khiders im Zentrum der Ermittlung. Dabei führen sie ein unscheinbares Leben. Anders als die repatriierten Pieds-Noirs, die sich in Vereinen neu organisieren, scheinen die Khiders im neuen Land die koloniale Gewalt hinter sich zu lassen. Aber auch sie werden Opfer der politisch aufgeheizten Stimmung, die in den späten Sommerwochen 1973 in den Départements von Südfrankreich an der Tagesordnung sind. Man will das gewaltbereite Klima als eine räumlich verschobene Nachwirkung des Algerien-Kriegs auffassen, ebenso könnte es Vorbote gewesen sein der antiarabischen Attentate, die 1975 folgen. Mit einem Mord an einem Busfahrer, dem von einem arabischen Fahrgast die Kehle durchschnitten wird, beginnt der Krimi in der Rekonstruktion einer willkürlichen Gewaltserie.

Für Théo Daquin ist es der sechste Fall. Als Pariser versteht er nichts von den regionalen Machenschaften, was auch ein Vorteil ist in seinem Team, Grimbert und Delmas gehören noch dazu. Rasch findet sich der Leser in den 1970ern ohne historistisches Überdekor wieder. „Wir sind zu dritt. Wir haben einen Fotoapparat und zwei Telefonüberwachungen“, Megafon und Flugblätter dienen der Agitation. Auch im Alltag ist die Vergangenheit erkennbar, in die der Krimi führt, Homosexualität wird als eine übliche Amour fou gelebt, wenn auch begrenzt auf das Private.

Von insgesamt neun Krimis der Autorin, neben fünf Romanen, sind die meisten übersetzt im Argument-Verlag erschienen. In einer Vorbemerkung stellt die Herausgeberin die franko-arabische Krise von 1973 neben die Aktualität des 21. Jahrhunderts. Aber: Nur weil sie nicht vergehen will, die Vergangenheit der Lynchmorde, der Bürgerwehren und Molotowcocktails, muss sie nicht zu unserer Zukunft gehören. Den Parolen „Stoppt die wilde Einwanderung“ setzten die Einwanderer 1973 einen erfolgreichen Streik entgegen.

Milieugetreue Tiefenschärfe

In einer dokumentarischen Perspektive auf diesen postkolonialen Abschnitt der französischen Geschichte löst Dominique Manotti das Krimischema von Gut und Böse auf. Eindeutige Seiten gibt es nicht, hier zählen die feinen Unterschiede, zwischen französischen Algeriern und algerischen Franzosen, zwischen tendenziösen Journalisten und Redakteuren, die sich erst mal umhören. Selbst wenn in dem politischen Gewirr die Ziele der Ideologien und Aktionsgruppen allmählich deutlich werden, gibt es noch immer von jeder Sorte zwei Exemplare, die algerischen Väter, die ihre Söhne im blutigen Straßenkampf verlieren, und französische Söhne, die ihre Väter in der Résistance verloren haben. Es gibt die Ehefrauen der hochkatholischen Nationalisten, die keine Hochmesse verpassen, und Priester, die sich dem arabischen Trauerzug anschließen, der einen Sarg für seine letzte Überfahrt begleitet, die Staatspolizei der Sûreté, die kein Interesse an der Aufklärung des rassistischen Filzes zu haben scheint, und die Kriminalpolizei, die es genauer wissen will.

Die große Marseille-Trilogie von Jean-Claude Izzo (der Freitag 47/2013), die mit milieugetreuer Tiefenschärfe von der Sta dt aus dem finsteren Herzen ihrer mediterran transkontinentalen Kultur heraus erzählte, ergänzt Dominique Manotti, seine Altersgenossin, in Marseille.73, wieder im Krimi-Format, nun mit historischem Weitwinkel, durch die Details der Vernetzungen einer rassistischen Gesellschaft, und sie erinnert zugleich an das komplexe Dickicht ihrer Ursprünge.

Alles fließt

Dorothee Waldenmaier studierte als Meisterschülerin Bildende Kunst an der HGB Leipzig. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Für ihr Fotobuch Fluss erhielt sie den Förderpreis für junge Buchgestaltung der Stiftung Buchkunst und den Deutschen Fotobuchpreis. Waldenmaiers Arbeiten wurden unter anderem im Dortmunder U, Goethe-Institut Paris und im Printing Museum in Tokio ausgestellt.Alles fließt: Fluss ist eine bildnerische Abhandlung eines Flusses am Beispiel der Spree. Ein Manifest der Form. Die Bilder laden zur Reflexion über Wahrnehmung und den Mikro- und Makrokosmos der Naturformen ein. Sie zeigen die Schönheit des Formlosen und Beiläufigen.

Info

Marseille.73 Dominique Manotti Iris Konopik (Übers.), Argument Verlag 2020, 397 S., 23 €

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