Darf ein Vater die Tochter schlagen? Zweimal? Einmal mit der Hand, dann mit der Faust? Hideo Yokoyamas 64 ist ein Krimi, aber bluttropfende Bilder bleiben aus. Daher treffen diese Schläge mitten in der Lektüre etwas hart. Mikami, der Kriminalbeamte im Verwaltungsdienst, schlug Ayumi nicht, weil er ein brutaler Mensch wäre. Es ist ein kurzer privater Ausfall, nach dem seine Tochter verschwindet, um auf den folgenden vielen hundert Seiten nicht wieder erkennbar aufzutauchen.
Mikami, von der Pike auf ein Kriminaler, ist mit der Reform der Presseabteilung der Polizei befasst. Aber selbst in diesem Sekundär- und Tertiärsektor tauchen die Verbrechen als Probleme wieder auf, aus dem Archiv, weil Überlebende weiterleben oder weil es Memos gibt. Die Entführung und Ermordung der siebenjährigen Shoko liegt 14 Jahre zurück, ohne dass ein Täter gefasst wurde. Die Agenten der neuen Recherche sind nicht als heldenhafte Individuen erkennbar, sondern mit ihren Milieus fest verwachsen und ihnen verpflichtet: dem Kriminalamt und ihrer Verwaltung, die Journalisten der Presse, den Familien und ihren Ehefrauen. 64 erzählt verschiedene Parallelgeschichten, die alsbald eng verwoben sind. Ein lange Zeit totes Mädchen und ein eben verschwundenes, beide Schicksale ein Rätsel. Eine Verkehrsstraftäterin und ein Mädchen, das ihr Gesicht verabscheut, beide suchen die Anonymität. Eine banale Beschwerde des Presseclubs und ein undurchsichtiger Filz bis an die Spitze der Ordnungsmacht, beides in einem Amtsgebäude.
Das ferne Japan rückt durch die Innenschau auf den Polizei- und Presseapparat in unsere nächste Nähe. Kamen asiatische Krimis bisher in einem mehr folkloristischen Format in Europa an, so führt Yokoyama Situationen vor, die wenig ortsgebunden sind. Das ist globale Literatur: 64 setzt weit ab von Tokio an, in einer Stadt D. und in einer beliebigen Präfektur. Die Neugier für kulturspezifisches Detailwissen, die den anhaltenden Krimi-Boom angeschoben hatte, sie nimmt ab. Entsprechend ist das angehängte Glossar, das japanische Begriffe oder Möbel erklärt, als nur nostalgischer Rest einer Krimi-Ära zu verstehen, die sich für fremde Länder und ihre Verbrechen interessierte.
Auch Mikami ist den Traditionen nicht verhaftet. Nach einem Hausbesuch, den er macht, um eine Homestory für den Generalinspekteur zu arrangieren, muss er nach langem Sitzen auf den Fersen seine Beine wach strecken. Während der unbekannte Mörder von Shoko über „extensive Ortskenntnisse“ verfügte und damit entkam, waren die Ermittler in einen trägen Verwaltungs- und Zeichenapparat eingesperrt. Mit ihnen Mikami, der, anstatt in einem Verbrechensfall sich als Kriminalbeamter beweisen zu können, als Verwaltungsmann sich in einem Kommunikations-Krimi wiederfindet. Welchen Tratsch soll die Presse gezielt erfahren? Hat die Öffentlichkeit ein Recht auf die Namen von Tätern? Wer darf was wissen, wer hat wann „den Mund zu halten“? Muss Ayumis Bild auf allen öffentlichen Sendern gezeigt werden? Kann eine schriftliche Mitteilung dasselbe in Erfahrung bringen wie gesprochene Worte?
Zahlen, bitte
64, 2013 in Japan erschienen, wurde mit Preisen ausgezeichnet und rasch übersetzt. Wem der Wälzer zu langwierig ist, vielleicht weil er viele Umwege durch die Sprachen nehmen musste (er wurde aus dem Englischen übertragen), der kann bereits die Verfilmung von 2016 sehen. Der Zweiteiler macht ein äußeres Drama aus der inneren Anspannung, die Mikami im Roman erfährt. Sie rührt daher, dass sowohl er selbst seine Emotionen und Schwindelanfälle in Schach zu halten hat, wie er auch mit Zeichen ringt, die schlicht kapiert werden wollen: undurchsichtige Gesichter, ein übertriebenes Nicken, ein vermeintliches Grinsen im Gesicht des Gegenübers, das schweigende Telefon. Der Erzähler schließt sich dem Schweigekartell, das zudem hinter dem eisernen Vorhang der Verwaltung mauert, glücklicherweise nicht an. Was Mikami mühsam in Erfahrung bringt, gibt dieser an die Leser weiter: dass der Name von Hanako Kikunishi nicht öffentlich verschwiegen wird, weil sie schwanger ist, sondern die Tochter eines wichtigen Amtsfunktionärs. Oder dass in Mikami animalische Triebe schlummern.
Der Titel 64 schließt an die florierenden Zahlen- und Coderomane an – auch dies ein Signal globaler Literatur. Mao II von Don DeLillo, 2666 von Roberto Bolaño oder der Paragraph 353 bei Tanguy Viel sind Beispiele dafür. Der nächste Roman von Hideo Yokoyama wird 17 heißen. Bei 64 handelt es sich wieder um eine Kalenderrechnung. Als Shoko ermordet wurde, endete die Shōwa-Ära nach 64 Jahren, sie ging über in die Heisei-Ära. Aus diesem aktuellen Krimi spricht daraus eines: die globale und triviale Sehnsucht nach einer Zeitenwende und Ablösung der Macht der Waffen, um die Zeichen der Kommunikation neu zu verstehen.
Info
64 Hideo Yokoyama Sabine Roth, Nikolaus Stingl (Übers.), Atrium 2018, 635 S., 28 €
Die Bilder des Spezials
Gangster, falsche Prediger, jede Menge Psychopathen und Mafiosi, Korruption in Politik und Polizei – das waren die berüchtigten Schattenseiten von Los Angeles, der berühmten Stadt der Engel.
Der Goldrausch, die Ölindustrie, Traumfabrik Hollywood – L.A. lockte Darsteller, Glückssucher und Hochstapler an, die Stadtbevölkerung explodierte in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, 1920 lebten in Los Angeles bereits 1,2 Millionen Einwohner. Dark City. The Real Los Angeles Noir (Taschen 2018, 480 S., dreisprachig, 75 €) zeigt den rasanten Aufstieg der Stadt in den 1920er bis 1950er Jahren. Der Band versammelt Fotos aus Archiven, Museen, vor allem aus dem spektakulären Privatbesitz des Kulturanthropologen und Grafikdesign- Experten Jim Heimann.
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