Morning has broken

Zeitgeist Am Münchner Volkstheater inszeniert Abdullah Kenan Karaca „Die Physiker“ und trifft damit den Nerv
Ausgabe 24/2019

Es war die Sonne und wohl auch Intuition, weshalb wir uns lieber vor das Café Meschugge setzten, also lieber draußen vor dem „Café der Verrückten“ blieben, um über Die Physiker zu sprechen, Abdullah Kenan Karacas jüngste Inszenierung am Münchner Volkstheater. Denn Friedrich Dürrenmatt hat sich für sein Stück, uraufgeführt in Zürich 1962, ein Irrenhaus ausgedacht. Die Anstalt wird als Sanatorium schön geredet, befolgt nach alter Bühnenregel die Einheit des Ortes strikt, heißt: aus ihr kommt niemand je wieder heraus.

Die Premiere wurde in München mit Szenen- und Schlussapplaus gefeiert. Das liegt an einer Inszenierung, die mit sorgfältig liebevoller Handwerkskunst arbeitet, auf alles achtet, dem Text gerecht wird, das Bühnenbild raffiniert aufbaut, es in das Spiel einbindet und den Schauspielern alle Möglichkeiten des Irre-Seins gibt. Ob Gesundheitswahn (– „Man darf doch rauchen?“ „Es ist nicht üblich.“) oder wenn eine Sprechpassage bald nur noch Töne einer Kopfstimme von sich gibt, bald schallend in Edith Piafs Non, je ne regrette rien übergeht.

Der Erfolg rührt auch daher, dass das Stück keine bemühte Modernisierung braucht, weil es über die detektivische Entdeckung der Geheimnisse der Patienten Newton, Einstein und Möbius hinaus den „Zeitgeist“ auch so trifft. Der Regisseur braucht kaum an diesem scheinbar altmodischen Lehrstück über das Scheitern des Wissens zu rütteln; er lässt es gelten und konzentriert sich auf vermeintliche Nebenschauplätze, auf denen er sich austobt. Und das gelingt. Wenn Albert Camus ohne Anstoß zu erregen die mittelalterliche Seuche der Pest in Europa ins algerische Oran der Nazizeit verlagern konnte, warum sollte Abdullah Kenan Karaca sein Münchner Publikum nicht vor ein osmanisches Mosaik in krass widersprüchlichem XXL setzen dürfen, obwohl das Sanatorium nach wie vor in der Schweiz steht? Worüber im Publikum der 1960er als psychedelischer Spaß gelächelt worden wäre, zeigt heute die merklichen kulturellen Verschiebungen. Dem Schweizer Friedrich Dürrenmatt wäre diese Wandtapete nicht eingefallen, dem Sohn türkischer Eltern und gebürtigen Oberbayer Karaca gefällt es.

Ja, ich bin verrückt

Dem Haus-Publikum sind Die Physiker gut bekannt. Das seinerzeit populäre Stück wurde sofort zur Schullektüre. Dürrenmatt schrieb die Komödie 1980 als „dichterische Fassung“ zu Literatur um, damit sie länger hält. Karacas moderne Physiker passen nun zu den Erinnerungen an die 70er und 80er-Jahre, als erstmals seit Kriegsende über die Zukunft Westdeutschlands öffentlich nachgedacht wurde. Anstatt in den Verheerungen des Nazi-Kriegs und ihrer Aufarbeitung endgültig zu verstarren, wurde nach vorne geblickt. Waren die 68er noch die wütende Befreiungsaktion von autoritären Strukturen, so begannen die 70er die eigene Zeit wahrzunehmen, sie nahmen den Bau von Atomkraftwerken zur Kenntnis, stellten traditionelle Lebensformen wie die Ehe in Frage, fanden eine angemessene Mode, kurz: eigentlich waren die 70er doch viel nonkonformistischer als die berühmt wilden 68er. Die Physiker von 2019 passen heute zum Kino-Politdrama Wackersdorf (2018), zum Buch über Hermann Hesse von Thomas Lang Immer nach Hause, zur cognacfarbenen Breitkord-Hose mit Schlag, einmal bereits als scheußlich wieder beiseite gelegt. Wer sie als retro-Mode schmäht, bestätigt sein solides Gedächtnis und offenbart aber womöglich eine neue Fortschrittsgläubigkeit, die weit retrograder in alte Sackgassen weist.

Bereits seit der Aufklärung wurde ja jeder Fortschrittswahn zeitgleich kritisch hinterfragt. Der Blindheit erteilen Die Physiker eine kollektive Absage. Am Ende wählen alle drei Irre das Gefängnis der falschen Identität und den realen Wahnsinn: lebenslängliche Pflege durch Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd, der durchgeknallten Erbin und Unternehmerin, die in ihren geheimen Momenten in rosa Tüll schwelgt. „Wir müssen unser Wissen zurücknehmen … es gibt keine andere Lösung“, sagt bei Dürrenmatt der offen bekennende Irre, der ein international anerkanntes Physik-Genie ist, es aber nicht mehr sein will, seit er die Konsequenzen seiner Formeln erkennt und von Geheimdiensten verfolgt wird. Die Morde an den Krankenschwestern, die den (Pseudo-)Wissenschaftlern auf die Spur gekommen waren, erwiesen sich als sinnlos. Entsprechend verwirrt ist der Kriminalinspektor, der bei der Aufklärung in einem ähnlichen Dilemma zwischen falschen und wahren Kriminellen steckt.

Also wieder die alten Klamotten tragen, Klappfahrräder fahren, Die verlorene Ehre der Katharina Blum lesen, rückwärts gehend herausfinden, wann genau und auf welchem Feldweg die Atom-Kraft-nein-danke-alternativ-Menschen, die mit prägnanter Medien-Kritik und im Bewusstsein eines unausweichlichen Öko-Radikalismus aufwuchsen, falsch abgebogen sind? Um lange Zeit später in einem kultur- und alltagspolitischen Schlammassel von Zerwürfnissen und gesellschaftlicher Phantasielosigkeit neu festzustecken? Karaca zeigt, die Fragen, des Stück von 1962 sind dieselben geblieben wie die gegenwärtigen. Greenwashing ist auch keine Lösung.

Und dann sieht Abdullah Kenan Karaca original auch noch aus wie Cat Stevens in den Mittsiebzigern. Seine Theaterarbeit umgibt insgesamt ein Flair von wie-es-früher-war. Die Bärte wachsen schon. Seit 2015 ist Karaca Leiter der Oberammergauer Festspiele und eilt seit den gestarteten Vorbereitungen für das Megakulturevent 2020 im „Passionsdorf“ hin und her. Dort ist er tragende Säule, aber auch Schauspieler, und deren Haare müssen für eine authentische Physiognomie wachsen, mosaisches Gesetz. Seine Laufbahn ist eine klassische, die mit dem Rückenwind des Talents, das früh in den Betrieb eingewiesen wird, zügig voran sprintet. Das lokale Milieu, in dem er nun erfolgreich ist, hat er seit Kindesbeinen nicht verlassen, für Ausflüge allemal, von denen er rasch zurückkehrte. Auch der programmierte Umweg einiger Lehr- und Wanderjahre in die norddeutsche Fremde des Studiums an der Hamburger Hochschule für Regie und Musik (2012-2015), gehörte in der humanistischen Renaissance zur Ausbildung des Adepten.

Von Ruth Drexel übernahm sein Lehrer, Christian Stückl, 2002 das Volkstheater, Karaca wurde 20-jährig dort Regieassistent, heute ist er Hausregisseur. Bis in die Wahl seiner Stücke (Volpone, 2017) macht er alles genau so wie Stückl, auch den Spagat zwischen der oberbayerischen Naturbühne und der Brienner Straße. Undurchschaubar bleibt nur, wo Filiale sein soll und wo Zentrale. Auch diese Gepflogenheiten des Familienbetriebs und Duzvereins eines Jugendzentrums, das auf Zeit spielt und in dem jeder alles macht, decken sich passgenau mit der aktuellen Sehnsucht nach „friends & family“. Sie stammt aus der Tradition der Bergdörfer, wenn in langen Wintern die Wege abgeschnitten und alle ausnahmslos aufeinander angewiesen sind.

Religion ist Theater

Den geläufigen Zuschreibungen macht sich Karaca kaum die Mühe zu widersprechen. Seit Arabboy (2012) lässt er das Migrationsthema hinter sich. Ausgewogen gräbt er sich durch den Kanon der westlichen Moderne (Der große Gatsby, 2013) und durch Mundart-Stücke (Geierwally, 2017), die dem Charakter eines Volkstheaters treu bleiben. Dass er die Debatte um den muslimischen Passionsleiter an sich vorbeiziehen ließ, leuchtet sowohl theater- wie religionsperspektivisch ein. Religion ist Theater. Da spielt es keine Rolle, welcher man angehört, ob nach Westen oder nach Osten geneigt, ob wir auf offener Bühne von der Kreuzigung ergriffen werden oder von der Erscheinung des Königs Salomon wie in Die Physiker. Die Passions-Spiele, von denen Karaca herkommt, sind Rituale eines gemeinschaftlichen Kults und sie haben ihren Platz eben dort, in den von der Welt abgeschnittenen Orten, die sich in der Geschlossenen Gesellschaft des Theaters widerspiegeln.

Es sind nicht die eigenen Ideen, denen der rasante Aufsteiger den Vorrang gibt, es ist das Publikum. Seine Produktionen platziert er gut überlegt in den hiesigen Kulturkalender: Woyzeck zum Büchner-Jubiläum (2014), Dürrenmatt in die allgemeine Retro-Schlaufe im Jahr 2019. Als klassischer Transformer, der aus der Jugendarbeit stammt, macht er sie heute selbst, wenn er mit dem Knabenchor im Schwimmbad Theater probt; Regie hat er unter Anleitung studiert und kann sie eigenhändig führen, er liest Literatur und setzt sie für uns um in Bilder und Musik.

Theater heute geselliger und kritischer, vielfältiger und vergnüglicher machen? Am Münchner Volkstheater funktioniert das mit Regisseur Kanaca sehr gut.

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