Von den Witwen

Buchmesse Spezial In „Athos der Förster“ wirft ein Massaker der Wehrmacht seinen Schatten auf eine griechische Familiengeschichte
Ausgabe 11/2019

Die Ahnung davon, dass der Mensch in der Natur einen Vorteil hat – mag sie heute auch zu einer nur schwachen Vermutung geschrumpft sein –, ist mit jedem weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Jahrzehnt immer klare Gewissheit gewesen. Für Partisanen, für Flüchtende quer durch das Land und Länder, für Vertriebene. In Kriegszeiten galt das umso mehr. So auch für Athos, der lange mit und in der Natur lebte, Wege durch den Schnee hindurch riechen konnte, um ein Ziel in den Bergen, unweit der griechischen Küste zu erreichen. Athos war Förster und hatte all das gelernt, im griechischen Staatsdienst der 1930er-Jahre, bevor er zu einem Geist, einem Überlebenden oder zu einer Erinnerung wurde, man weiß es lange nicht genau bei der Lektüre des Romans Athos der Förster.

Lefki ist die Enkelin von Athos, Margarita ihre Mutter und seine Tochter, Marianthi war seine Frau, sie und der Förster hatten sich in jungen Jahren kennen gelernt, Athos war noch in den Lehrjahren, um nichtsdestotrotz sofort zu heiraten und eine Familie zu gründen, der Sohn Giannos und Margarita werden geboren.

Befreier? Verräter?

Aus den Wäldern kennt sich das Paar, das berufswegen von hie nach da durch Griechenland zieht, bevor sie sich in Kalavryta niederlassen. Athos der Förster ist ein Generationenroman, die erzählte Zeit erstreckt sich über das ganze lange 20. Jahrhundert, er ist aber auch ein Geisterroman, der Zweite Weltkrieg unter der Besatzung der Deutschen hat Verwüstung gebracht, Tote gefordert und Spukgestalten erschaffen. Erst die Enkelin Lefki, 1955 geboren, findet den Halbtoten Athos wieder und geht seinem Leben und Sterben nach. Aus ihrem Nachlass erzählt Maria Stefanopoulou zum größten Teil, bevor sie sich im letzten Kapitel auf die Aufzeichnungen der Tochter Lefkis, nach deren Tod, Iokaste, Urenkelin von Athos, verlässt.

Der Roman arbeitet das Massaker an griechischen Männern durch deutsche Soldaten im Dorf Kalavryta im Winter 1943 auf, in der Geschichte gilt es als Vergeltungsschlag gegen die Ermordung deutscher Kriegsgefangener durch griechische Milizen wenige Tage zuvor. Dass das Massaker die Familiengeschichte durchzieht, geht aus der Perspektive der Enkelin hervor, die sich an Krieg, Bürgerkrieg und Diktatur erinnert. Hier ähnelt Athos der Förster dem Film von Carlos Saura, Züchte Raben, der darin das gesellschaftliche Klima der 1970er-Jahre in Spanien unter der Franco-Diktatur zeigte. Auchin Athos der Förster nehmen alle drei Frauen, Großmutter, Mutter und Tochter die Vergangenheit völlig verschieden wahr, glauben an Vergeltung, gehen von Rache aus, versuchen Täter von Opfern zu unterscheiden. „Sie hatten es nötig zu verzeihen, aber auch, dass ihnen verziehen würde, sie brauchten Zeichen der Versöhnung und Reue oder auch Sündenböcke.“ Im Verlauf der Genealogie der Witwen, ihrer Töchter und Tochterstöchter ist das Verstehen und Vergeben verschieden ausgeprägt: „Sie nahmen eine Fortsetzung des Krieges in Kauf, bei dem an die Stelle der Deutschen die griechischen Kommunisten traten. Sie waren bereit, den tatsächlichen Verbrecher, der noch dazu einer anderen Konfession angehörte, frei zu sprechen und, mit Gottes Hilfe, ihren einheimischen Befreier als Verräter für schuldig zu erklären. Ich hatte Mitleid mit ihnen, aber kein Verständnis für sie.“

Dass das von den Deutschen an den Griechen verübte Massaker von 1943 hier eingebettet ist sowohl in die Fortsetzung des griechisch-griechischen Bürgerkrieges, der sich vom Zweiten Weltkrieg bis ins Jahr 1949 anschloss wie ebenso in die der deutsch-griechische Vorgeschichte, nämlich in die Strukturen der bayerischen Forstverwaltung, die von Griechenland bereits in den 1920ern übernommen wurden, relativiert nicht die „extreme kollektive Gewalt an Wehrlosen“ oder, wie es Athos schreibt, ein „Verbrechen, das an Unschuldigen verübt wird“, reißt jedoch seine Brutalität aus einer rein historischen Ereignishaftigkeit.

Athos der Förster beginnt mit einem Erinnerungsbild, aus dem Familienalbum. Es zeigt zwei Kinder in schwarz-weiß, sie stehen in einer kaum erkennbaren Natur auf Steinen, in kurzer Hose und kurzem Kleid, die Sonne scheint, sie posieren in Freundschaft und Verbundenheit für den Fotografen, oder die Fotografin, man kann auch das nicht genau wissen, der Junge legt beschützend oder lediglich vertraut den Arm um die Schulter des Mädchens mit der übergroßen Haarschleife, wie man sie damals trug. Das Bild sagt nichts, zeigt nur, dass es diese Menschen in ihren jungen Jahren einmal gegeben hatte. Der Roman jedoch, der dem Bild folgt, erzählt davon, was sie erlebten, wer sie waren, wie sie zueinander gehören, wie sie starben und wer sich an sie erinnert. Man möchte es eine Erinnerungsfiktion nennen, die Maria Stefanopoulou aus dem historischen Massaker macht, in der sie sich ausdrücklich auf Dokumentationen und Fachliteratur der Geschichtswissenschaft stützt.

Transnationales Gedächtnis

Die Leistung der Übersetzung dieses Romans kann kaum unterschätzt werden. Michaela Prinzinger gelingt es zum einen, die Gedanken, Aufzeichnungen und Erinnerungen in ein sensibles Deutsch zu übertragen. Es handelt sich bei Athos der Förster um die erste Ankunft des griechischen Romans in einer anderen Sprache. Diese deutsche Fassung geht sogar einer englischen voraus, womit die Chronologie der Übersetzungen der Topographie des Stoffes entspricht und nicht einer vermeintlich globalen Sprachenrangfolge. Allein der Übersetzung als solcher gelingt es, jenes transnationale Gedächtnis – der französische Philosoph Maurice Halbwachs, der 1945 im KZ Buchenwald starb, hätte vom „kollektiven Gedächtnis“ gesprochen -– zu erschaffen, das für die Erinnerung an sowohl nationale wie kollektive Komplexe der Verwüstung, der Schuld, des Todes und der Frage des Überlebens in Kriegszeiten notwendig sind. Bei kaum einer Übersetzung wird derart offensichtlich nachvollziehbar, dass sich ein Übersetzen nicht in sprachlicher Arbeit erschöpft, sondern einen kulturellen, und hier: historischen Dialog herzustellen vermag.

Info

Athos der Förster Maria Stefanopoulou Michaela Prinzinger (Übers.), Elfenbein Verlag 2019, 248 S., 22 €

Eva Erdmann ist Romanistin und lebt in München

Wie Tati

Geboren und aufgewachsen in Rumänien, lebt und arbeitet die Illustratorin und Grafikdesignerin Andreea Dobrin Dinu heute in Hamburg. In ihrem Studio Summerkid entstehen die lustigen Zeichnungen, bei deren Betrachtung man stets ein gewitztes Detail findet, das stutzig macht, das Szenen des Alltags auf den Kopf stellt.

Die Künstlerin sagt, die Bilder sollen den Betrachter an den joie de vivre erinnern, den wir vielleicht noch aus den Sommern erinnern, als wir Kinder waren. Und tatsächlich, ihr Humor erinnert an lustige Ferien mit Monsieur Hulot.

Dinu studierte Grafikdesign in Bukarest, Illustration und Typographie in Leipzig. Im Jahr 2018 erhielt sie den britischen World Illustration Award Talent.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden