Dildo am Stiel

Abstand Sexarbeiterin Candy hat momentan nicht viel zu tun. Also dreht sie Corona-Pornos
Ausgabe 22/2020

An einem Nachmittag im März flitzt Candy im Latexkostüm durch einen gewöhnlichen Neuköllner Hinterhof, um sich im Keller selbst zu befriedigen. Ihre Mitbewohnerin Jo Pollux folgt ihr mit der Kamera. Es wird ein ungewöhnlicher Porno, der hier entsteht. Eine Soloperformance. Kein Gruppenkuscheln, keine Nähe, keine wechselnden Partner*innen. Und auch sonst ist nichts wie immer: Jo wäre eigentlich gerade bei einer Produktion in New York, Candy würde vielleicht Zeit mit einem ihrer Kunden verbringen. Stattdessen produzieren die beiden einen skurrilen Pornofilm im Keller ihrer WG. Für die Sexarbeiterinnen eine willkommene Abwechslung inmitten der Quarantäne. Für ihre Kolleg*innen auf der Straße ist der Porno ein Fundraising, um die kommenden Monate zu überleben.

Kaum eine Branche steht angesichts der Pandemie vor so existenziellen Einbrüchen wie die Sexarbeit, beklagt der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD) in einer Pressemitteilung. Sexarbeit und Pornodreharbeiten benötigen alles, was unter Corona streng verboten ist: wechselnde Kontakte, Reisen, körperliche Berührung.

Ein Superspreader?

Vergangene Woche forderten 16 Bundestagsabgeordnete in einem Brief an die Landesregierungen, Sexarbeit auch über die Corona-Krise hinaus zu verbieten. „Es dürfte auf der Hand liegen, dass Prostitution die Wirkung eines epidemologischen Superspreaders hätte – sexuelle Handlungen sind in der Regel nicht mit Social Distancing vereinbar“, heißt es darin. Gefordert wird zudem, dass den Betroffenen eine Möglichkeit zum Ausstieg aus der Branche angeboten wird, „eine Ausbildung oder Tätigkeit in einem existenzsichernden Beruf“. Unterzeichnet haben unter anderem die SPD-Gewerkschafterin Leni Breymaier, der ehemalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sowie der Mediziner und SPD-Politiker Karl Lauterbach. Einige Politiker sahen mit der Krise offenbar den Zeitpunkt gekommen, um ihren Forderungen nach einem generellen Verbot der Sexarbeit Nachdruck zu verleihen. Die Debatte um ein potenzielles Verbot der Sexarbeit wird seit Jahren immer wieder energisch geführt (siehe Kasten). Zuletzt schaltete sich die Justizministerin des Landes Niedersachsen, Barbara Havliza (CDU), in die Debatte ein. In einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung hielt sie es für vorstellbar, dass alle Bereiche nach der überstandenen Krise weitermachen können wie bisher, auch solche, die „von manchen für falsch oder verwerflich gehalten werden, wie etwa der Konsum von Genussmitteln oder die Prostitution“.

Der BesD reagierte prompt auf den Vorstoß der Abgeordneten. In einem Schreiben vom 19. Mai forderte er die sofortige Öffnung der Bordelle. Hygienemaßnahmen, so der Verband, ließen sich auch in der Sexarbeit, im Kontakt mit den Kunden und in „Bars, Kinos, Tabledance, Laufhäusern und FKK-Wellnessoasen“ umsetzen, „wie in der Gastronomie“. Ein entsprechendes Hygienekonzept habe der BesD in Zusammenarbeit mit mehreren Gesundheitsämtern erarbeitet. Der Verband fordert Gleichberechtigung und merkt unter anderem an, dass eine „nicht medizinische Massage“ von einer „erotischen Massage“ praktisch nicht zu unterscheiden sei. Erstere ist unter strengen Hygieneauflagen zurzeit wieder erlaubt. Um die Infektionsketten nachvollziehen zu können, sollen zudem die Kundendaten bis zu vier Wochen lang aufbewahrt werden. Ein für die Branche ungewöhnlicher Vorstoß, da die Diskretion für die Kunden hier sonst ein hohes Gut darstellt.

In kaum einer Branche leben die Dienstleistenden so von der Hand in den Mund wie in der Sexarbeit. Candy und Jo sehen sich als privilegiert. Die beiden waren schon vor der Corona-Krise als Soloselbstständige gemeldet. In ihrer Sechser-WG, die sie als „eine Mischung aus Freund*innen und Liebhaber*innen“ beschreiben, sind alle in der Branche tätig. Als Escort, Pornodarsteller*innen oder Produzent*innen. Manchmal drehen sie gemeinsam alternative, aber auch kommerzielle Pornos. In den ersten Wochen der Berufseinschränkungen konnten sich die Mitbewohner*innen gegenseitig unterstützen, um Formulare auszufüllen und Hilfen zu beantragen. Candy habe außerdem Rücklagen, mit denen sie die kommenden Monate überstehen könnte. Die staatliche Unterstützung kam schnell. „Ich musste nicht mal angeben, in welcher Branche ich tätig bin. Sexarbeit wurde ausnahmsweise mal als ganz normaler Beruf behandelt“, sagt Candy, „trotzdem ist es für viele eine verzweifelte Situation. Wir gehen davon aus, dass die Verbote für uns als Allerletzte aufgehoben werden.“ Zum Zeitpunkt des Gesprächs gab es noch kein Schreiben, welches das generelle Verbot von Sexarbeit forderte. Auf Sexarbeit stehen momentan Strafen von bis zu 5.000 Euro. Nun steht zur Debatte, ob das so bleiben könnte.

Unter Auflagen erlaubt

Sexkauf Die Debatte über die Prostitution wird in Deutschland immer wieder erbittert geführt. Befürworter pochen darauf, dass Sexarbeit eine freiwillig ausgeübte Arbeit wie jede andere sei; Gegner*innen prangern an, dass Prostitution in vielen Fällen Zwangsprostitution bedeutet, und fordern ein Verbot. Häufig fällt in diesem Zusammenhang der Begriff „Schwedisches Modell“. In Schweden steht der Sexkauf unter Strafe, Prostituierte selbst bleiben straffrei. Deutschland hat eine vergleichsweise liberale Prostitutionsgesetzgebung. Das Prostitutionsgesetz (ProstG) erkennt Prostitution als Dienstleistung an. 2016 erließ die Bundesregierung zusätzlich das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG), das eine Erlaubnispflicht und eine Anmeldebescheinigung fordert – eine Verfassungsbeschwerde von Interessenverbänden lehnte das BVG 2018 ab.

Ein Großteil der Beschäftigten habe keine Möglichkeit, auf staatliche Hilfen zuzugreifen, sagt Tamara Solidor vom BesD. Die ohnehin prekären Arbeitsbedingungen treten durch die Corona-Krise mehr denn je zutage. Der Großteil der Sexarbeitenden könne die Anforderungen der Soforthilfe aus verschiedenen Gründen nicht erfüllen: kein deutscher Pass, keine feste Meldeadresse, kein eigenes Konto. Manchmal nicht mal ein Aufenthaltsrecht geschweige denn eine Steuernummer. Hinzu kämen Sprachbarrieren beim Ausfüllen der Anträge. „Je prekärer das Arbeitsverhältnis, desto schwieriger gestaltet sich der Zugang zu staatlichen Hilfen“, sagt die Sprecherin des BesD. Außerdem können die Soforthilfen nur für Betriebskosten eingesetzt werden. Die liegen in der unangemeldeten Sexarbeit jedoch bei null. „Es ist ein Teufelskreis“, sagt Solidor, „die Sexarbeitenden brauchen akut Geld für Essen, Miete oder Transport. Viele sehen keine andere Möglichkeit, als weiterhin zu arbeiten. Und wie würden sie eine Strafe überhaupt abbezahlen? Vermutlich durch Sexarbeit.“

Hinzu käme das erhöhte Risiko, dem sich Sexarbeitende auf der Straße gerade aussetzen. Neben der Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus sei auch das Arbeitsumfeld risikoreicher geworden. Unter dem Damoklesschwert des Erwischtwerdens fallen auch reguläre Sicherheitsroutinen wie Smalltalk, Verhandeln und Einschätzen der Kunden auf dem Straßenstrich weg. „Die guten, verantwortungsvollen Kunden bleiben weg“, weiß Candy von Kolleg*innen, „wer jetzt noch für einen Fick auf die Kurfürstenstraße geht, ist vermutlich nicht besonders verantwortungsbewusst.“ Manche Kunden würden von der finanziellen Abhängigkeit der Sexarbeitenden profitieren und diese sogar ausnutzen, um Dienstleistungen einzufordern, die sie sonst nicht anbieten würden.

Um diese doppelte Gefährdung auszuhebeln, hat der BesD einen Nothilfefonds eingerichtet. Sexarbeiter*innen ohne Anspruch auf staatliche Unterstützung soll ein unbürokratischer und schneller Zugang zu Soforthilfen ermöglicht werden. Der Verein arbeitet mit Beratungsstellen zusammen, die einen akzeptierenden Ansatz verfolgen.

Learning by doing

„Unser Angebot ist sehr niedrigschwellig. Wir können nicht prüfen, ob die Personen wirklich von Sexarbeit leben, das würde die Anfragebereitschaft auch hemmen“, sagt Solidor. Die meisten Anfragen kämen von den Beratungsstellen direkt, die das Geld dann an die Betroffenen weitergeben. Auch hier zeige sich ein struktureller Unterschied zwischen Regionen, in denen es auch außerhalb von Corona viele Unterstützungsangebote gibt: Frankfurt am Main, Hessen, Westfalen. Aus anderen Regionen, die weniger von Beratungsstellen abgedeckt sind, kämen auch weniger Anfragen: Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen. „Wir gehen davon aus, dass der Bedarf in diesen Gegenden noch viel höher ist, Betroffene aber weniger Zugang zu Informationen haben als in strukturstarken Regionen“, vermutet Solidor.

Mehr als 25.000 Euro sind in den ersten vier Wochen auf dem Spendenkonto eingegangen, hinzu kommt die Unterstützung eines Großspenders, die Solidor nicht beziffern will. Das sei Voraussetzung für die Spende gewesen. Wer sonst so spendet, weiß sie nicht. Manche geben an, das Geld, das sie sonst für sexuelle Dienstleistungen ausgeben würden, nun zu spenden. 150 Sexarbeitende wurden bisher mit rund 34.000 Euro unterstützt. Der Film, den Candy zusammen mit ihrer WG im Neuköllner Altbau produziert hat, brachte rund 5.000 Euro ein.

Elf Corona-sichere Arten, Sex zu haben, verspricht der Titel. In Teams von zwei bis drei Personen filmten sich die Darsteller*innen teils gegenseitig, teils eigenständig in Szenen, die man sonst selten in Pornos sieht. Ein Dildo, der auf einen Besenstiel geschnallt und mit ausreichend Abstand eingesetzt wird. Zwei vollvermummte Liebhaber mit Gasmasken. Striptease am Fenster für die Nachbar*innen. Dazwischen ein lehrerhafter Moderator, der Abstandsregeln und Quarantänemaßnamen erklärt. Wer dem Team einen Nachweis über eine Spende an den BesD zuschickt, bekommt den ganzen Film zugeschickt. Exklusivmaterial gibt es ab einer Spende von 50 Euro. Candys Nachbar*innen bekamen am Tag des Drehs auch ohne Spende mehr Einblicke, als ihnen vielleicht lieb waren: „Die haben schon mitbekommen, dass wir einen Film drehen. Als dann am Fenster gestrippt wurde, reagierten die Nachbarn aber sehr amüsiert“, sagt sie. Der Dreh sei befreiend gewesen, sagen die Mitbewohnerinnen. Kreativität statt Tatenlosigkeit.

Dabei gäbe es momentan viele andere Formen, mit Sexarbeit weiter Geld zu verdienen. Kommerzielle Porno-Plattformen wie xHamster bieten vermehrt Möglichkeiten für Livechats, bei denen sich die Dienstleistenden problemlos mit ihrem Smartphone einloggen könnten. „So gewinnen beide Seiten“, sagt Alex Hawkins, Marketingsprecher der Plattform, „einerseits die Frauen, indem sie endlich wieder Geld verdienen, und die Zuschauer, da sie so auch in einsamen Zeiten nicht auf erotischen Kontakt zu anderen Menschen verzichten müssen.“ Menschen wie Candy und Jo, die zuvor als Escort gearbeitet haben, sind da skeptisch: „Onlinedienste erfordern ganz andere Skills. Man muss sich da erst mal einen Ruf machen. Und nicht in jedem Haushalt spielt das Internet mit. Eine schlechte Internetverbindung ist maximal unsexy.“ Hinzu kämen die Herausforderungen der Datensicherheit, vor denen auch Solidor vom BesD warnt: „Onlineangebote sind ein komplett anderer Bereich der Sexarbeit. Datenschutz, Recht am eigenen Bild – das sind alles Dinge, in die man sich ganz schön reinfuchsen muss. Da herrscht viel Unsicherheit auf beiden Seiten. Für uns alle bedeutet die Situation: learning by doing.“

Candy hat sich dagegen entschieden, mit ihren Kunden live zu chatten. Stattdessen schickt sie einzelnen personalisierte Inhalte. Das, worum es bei Sexarbeit aber geht, könne kein Onlineangebot je ersetzen: „Sexarbeit dreht sich nicht in erster Linie um Sex, sondern um den Körperkontakt, sich halten, reden. Das Zwischenmenschliche kann ein Video nicht ersetzen.“

Obwohl dieser Nachmittag am improvisierten Pornoset sie kurz ablenken konnte, macht sich Candy Sorgen. Wie auch in anderen Wirtschaftsbereichen wird die Krise die kleinen Betriebe zuerst treffen. Die Bordelle, die von selbstständigen Sexarbeiter*innen geführt werden, die mit den guten Arbeitsbedingungen. Übrig bleiben die großen Saunaclubs, die Straßenstriche und ausbeuterischen Einrichtungen. Und wieder würden auch nach Corona diejenigen unter den Folgen der Pandemie leiden, die schon jetzt am prekärsten dran sind.

Eva Hoffmann ist freie Autorin in Tübingen. Für den Freitag (10/2020) berichtete sie zuletzt über Voyeurismus

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