Geschichte des Sklavenhandels: Wunden heilen, ohne anzuklagen
Porträt Die portugiesische Künstlerin Grada Kilomba legt die Geschichte des Sklavenhandels frei und will Wunden heilen – ohne Schuldzuweisungen. Eine Begegnung in Baden-Baden
Anfang Juli ereignete sich in der beschaulichen Kurstadt Baden-Baden eine denkwürdige Szene. Für gewöhnlich wird auf der Lichtentaler Allee, der baumgesäumten Flaniermeile der Stadt – vorbei an Trinkhalle, Casino, Kurhaus und Theater –, nun ja: flaniert, geschlendert, Eis geschleckt und der Hund spazieren geführt. Mit nichts als dem eigenen Wohlbefinden im Sinn (das ist so die Atmosphäre) beschließt man vielleicht, in das Restaurant Rizzi im Palais Gagarin einzukehren. Hier steht auf der Terrasse eine goldene, mit Eis gefüllte Badewanne, in der sich die Champagnerflaschen nur so türmen; bereit, für 200 bis 945 Euro käuflich erworben zu werden. An jenem Wochenende jedoch wurde der Rasen neben dem Rizzi zum Schauplatz der mag
magischen Performance O Barco/The Boat der portugiesischen Künstlerin Grada Kilomba.Zu Körpern reduziertUnd so lagen hier plötzlich 140 verbrannte Holzquader, die in ihrer Anordnung den Grundriss eines großen Boots markierten. Hinter dem Heck dieses skelettartigen, verkohlten Schiffsrumpfs versammelten sich 16 Performerinnen und Performer, alle People of Colour, und stimmten ein hymnisches Summen an. Sie wiegten ihre Körper hin und her, atmeten ein, atmeten aus. Wie Wellen. Wiederholten chorisch die Worte einer Sängerin: „Ein Schiff, eine Ladung, eine Geschichte, ein Stück, ein Leben, ein Körper, ein Mensch, ein Sein, eine Seele, eine Erinnerung, ein Vergessen, eine Wunde, ein Tod, eine Trauer, eine Revolution, eine Gleichheit, eine Zärtlichkeit: die Menschheit.“ Von der Rizzi-Terrasse rannten daraufhin ein paar Kinder auf die Wiese, zeigten auf die Performer*innen und riefen verblüfft: „Schaut mal, Amerikaner!“Die Kinder hatten natürlich unrecht. Die Gruppe kommt größtenteils aus Lissabon. Aber die kindliche Bemerkung traf den erzählerischen Kern der Performance. Denn ob nun aus Portugal, „Amerika“ oder von sonst wo auf dem Globus: Alle Menschen afrikanischen Ursprungs eint die gewaltsame Geschichte von einstiger kolonialer Zwangsverschleppung als Sklaven, die auf Booten, zu bloßen Körpern reduziert, in alle Welt transportiert wurden. O Barco/The Boat will auf diese traumatische Wunde verweisen; will das sichtbar machen, was Grada Kilomba die „gegenwärtige, aber versteckte Geschichte“ nennt.In ihrer Arbeit habe sie vor allem die Frage nach der „zyklischen Gewalt“ beschäftigt, erzählt sie im Interview auf der Terrasse der Kunsthalle Baden-Baden, die Kilombas Arbeit für ihre aktuelle Ausstellung Nature and State eingeladen hat. „Ich arbeite eigentlich immer mit der Frage, wie und warum Gewalt sich wiederholt. Was die Muster dieser Gewalt sind und warum wir sie nicht überwinden können. Gewalt wird ausgeübt, um Körper und Identitäten zu hierarchisieren. Um klarzumachen, wer als Mensch gilt und wer nicht.“ So seien die Boote von damals die Boote von heute, die auf dem Mittelmeer untergehen. Es seien dieselben Menschen, dieselben Körper, dieselbe Gewalt, dieselben Bilder, die sich wiederholen, sagt sie, ein sich fortschreibender Prozess, seit 500 Jahren im Gang.Grada Kilomba zuzuhören ist bewegend und auch ein wenig einschüchternd, aber auf beeindruckende Art. Sie spricht ruhig, mit tiefer Stimme und außergewöhnlicher Klarheit. Ihr offener Blick ruht unverwandt-interessiert auf ihrem Gegenüber. Sie sagt unverstellte Sätze wie: „Das werde ich sehr oft gefragt“, und dann: „Ich habe viele Jahre gebraucht, um herauszufinden, was die Antwort auf diese Frage ist.“Grada Kilomba wurde 1968 mit westafrikanischen Wurzeln in Lissabon geboren. Sie studierte zunächst Psychologie und arbeitete als Trauma-Therapeutin mit kriegsversehrten Menschen. Sie besitzt einen Doktor in Geschichte und Psychologie der Freien Universität Berlin. Sie lehrt und unterrichtet weltweit. 2010 schrieb sie ein Buch über Alltagsrassismus, Plantation Memories, das Kilomba einem breiteren Publikum bekannt machte und das für die Bühne adaptiert wurde. Ihre Arbeiten reichen von Texten und Filmen über Installationen bis hin zu Performances, die auf der documenta 14 gezeigt wurden, in Paris, Madrid, Kopenhagen, Berlin und New York.Wie wollte man sie und ihr Werk auf einen Begriff bringen? Ankündigungen bezeichnen sie wahlweise als Autorin, Psychologin, Theoretikerin, Filmemacherin oder interdisziplinäre Künstlerin. Heute sagt sie, ihre Arbeit finde im Grunde überall und nirgends statt. Ob in der Psychiatrie, im Literaturbetrieb, am Theater oder im akademischen Bereich – immer hätte ihr Schaffen den institutionellen Rahmen gesprengt, hätte in die jeweilige Ordnung nicht hineingepasst.Erst seit sie ausschließlich künstlerisch arbeitet, habe sie das Gefühl, dass sie ein Labor oder Experimentierfeld gefunden hat, um das zu machen, was der Kern ihrer Arbeit ist: Verdrängtes zu heben und das erscheinen zu lassen, was sonst keine Sprache hat. „Wir sind eine Generation, der keine Sprache dafür mitgegeben wurde, die Geschichten zu erzählen, die wir erzählen wollen. Wir haben keine Worte für unsere Körper, für unsere Erfahrungen. Jedenfalls keine, die nicht in der kolonialen und patriarchalen Sprache verwurzelt sind. Das ist ein inspirierender Prozess, mit einer visuellen Sprache zu experimentieren, die Geschichte neu erzählt.“Blick nach untenDenn erst wenn Geschichte wahrhaftig, also ohne bewusste Auslassungen, erzählt wird – so Kilombas Überzeugung –, ist es möglich, aus dem Kreislauf der Gewalt auszutreten. Der verdrängten Geschichte muss ein Ort der Sichtbarkeit und der Trauer eingeräumt werden. Erst durch die Anerkennung von Schmerz kann die Wunde heilen, das wird während der Performance von O Barco/The Boat deutlich. Eine Stunde lang gelingt es den Performer*innen, einen Erinnerungs- und Erfahrungsraum für die Geschichte zu öffnen, die ein Boot voller verschleppter Menschen bedeutet haben muss. Durch Gesang, Tanz und Musik werden die unzähligen namenlosen Körper poetisch heraufbeschworen, wie in der Geschichte von einem Liebespaar, das erst auseinandergerissen wird und später in der Performance, wie in einem neuen Leben, wieder zusammenfindet.Grada Kilomba recherchiert ausführlich, bevor sie eine Arbeit beginnt. Sie fand heraus, dass Holz beim Verbrennen seine jeweils einzigartige Struktur zutage treten lässt. „Die jeweilige Oberfläche von verkohltem Holz ist sehr individuell, wie die Haut des Menschen.“ Die erste Performance von O Barco/The Boat fand in Lissabon statt, inmitten von Monumenten aus Stein, die die europäische Seefahrt als heroisches Entdeckertum männlicher Protagonisten feiern. Die verstreuten Holzquader dagegen wirken nur fragmentarisch erhalten, so wie die spärlich überlieferte Geschichte der Verschleppten. Den betrachtenden, bewundernden Blick richtet man nicht wie sonst nach oben, sondern muss regelrecht auf die Knie gehen, um das fragile Material zu entdecken. Erst dann werden die Gedichtzeilen sichtbar, die in verschiedenen afrikanischen Sprachen in Gold auf das Holz geschrieben wurden, was sie wiederum zu Grabsteinen werden lässt. Es sind diese vielfachen Bedeutungsebenen, die die Installation so beeindruckend machen.Dass die Performance in Baden-Baden auf einer Wiese stattfindet und nicht in einer Stadt mit Seefahrtsbezug, ist für sie vollkommen konsequent. Die meisten europäischen Städte haben von der kolonialistischen Ausbeutung profitiert, die ihnen ihren ökonomischen Wohlstand beschert hat. Die ersten Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts seien von Deutschen in Namibia errichtet worden; die Aufteilung des afrikanischen Kontinents erfolgte mit der sogenannten Berliner Konferenz 1885. Es brauche also keinen Ozean in der Nähe, sagt sie, um die Performance aufzuführen, jeder Ort in Europa sei „perfekt“.Dabei geht es für Kilomba niemals darum, Schuld zuzuweisen. Die Magie, eine Künstlerin zu sein, sagt sie, bestehe für sie darin, „ohne Moral, Beschämung oder Vorwurf“ einen zu Ort erschaffen, der die Menschen durch Empathie und Emotionen auf ganz grundsätzliche Weise berühre. Wenn durch diesen magischen Ort Fragen aufgeworfen werden, die man vorher nicht hatte, dann hat Kunst es geschafft, die Gewalt zu durchbrechen. „Wenn wir uns mit dem Schmerz anderer aufrichtig konfrontieren und dann empathisch sagen: ‚Das habe ich nicht gewusst‘ – dann werden wir zu Menschen.“ Kurz lauscht sie diesem letzten Satz nach, bevor sie zur Probe mit ihren Performer*innen muss. Dann lacht sie und meint, sie wisse nicht, ob man das wirklich so sagen könne. Man selbst möchte nach der Begegnung mit ihr sehr gerne daran glauben.
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