Seid auf der Vorhut

Grafik Ein Designer ärgert sich über die American-Airlines-Homepage, entwirft eine Alternative und die Blogosphäre applaudiert. An die Mehrheit der User aber denkt dabei keiner

Die künstlerische Avantgarde zeichnet sich durch drei Elemente aus: die Provokation, die Innovation und die Selbstreflexion. Nun zählt das Webdesign nicht zur bildenden, sondern zur angewandten Kunst, aber auch da gibt es eine Avantgarde, mit der das Bürgertum (in diesem Fall: der Web-1.0-User) erst mal nichts anfangen kann.

In den Blogs amerikanischer Webdesigner lassen sich dieser Tage die drei Elemente der Avantgarde beispielhaft durchdeklinieren. Der New Yorker Webdesigner Dustin Curtis hat sich derart über das Design der Internetseite von American Airlines (AA) geärgert, dass er eine Alternative dazu entwickelt hat. Soweit die Innovation.

Damit aber nicht genug. Curtis erklärt unter der Überschrift „Dear American Airlines“, wie es zu seinem Entwurf kam und unterbreitet der Fluggesellschaft drei durchaus provokante Vorschläge:

1. AA solle seinen Entwurf als ernsthaftes Notsignal für das gesamte Unternehmen verstehen. Der schlechte Service am Kunden höre mit der Website nicht auf und koste die Fluggesellschaft viel Geld.

2. AA solle sein Designteam feuern und so schnell wie möglich eine neue Firma beauftragen, um eine nutzerfreundliche Website zu entwerfen.

3. AA solle der jungen und innovativen Konkurrenz von Virgin America und JetBlue folgen, die exzellenten Kundenservice anböten.

In den Blogs amerikanischer Designer stieß Curtis' Idee auf Begeisterung. „Wie rechtfertigt es ein Unternehmen wie American Airlines, eine solch mittelalterliche Website zu betreiben? Wollen sie Kunden davon abhalten, online zu buchen?“, fragt etwa William Ortel und verlangt für schlechtes Design eine Rechtfertigung wie es Juristen für Grundrechtseingriffe tun. In der Blogosphäre ist man sich weitgehend einig, dass Curtis' Entwurf gut und die Website von AA schlecht ist. Kritisch betrachten Curtis' Vorgehen hingegen wenige.

Einzige Ausnahme ist das Blog Yellowlane: Der Website liege ein komplexes Reservierungssystem zu Grunde, was sich eben auch an der Oberfläche zeige. Und letztlich seien die wenigsten Kunden von AA (wie überhaupt der geringste Teil der Internet-User) Designer. Der Durchschnittskunde aber gewöhne sich an den Aufbau und das Design einer Website, so dass plötzliche Veränderung in der Struktur der Seite mehr Schaden als Nutzen bringen könnten.

Curtis hat Recht darin, dass es der Website von AA an Übersichtlichkeit fehlt, sein Entwurf ist der Sache dienlich und in Hinblick auf seine Einfachheit auch gelungen. Auch drängt sich die Frage auf, warum große Unternehmen die kostenlose Kreativität von Webdesignern überall im Netz nicht stärker nutzen. Eine Antwort von AA hat Curtis jedenfalls noch nicht bekommen.

Für eine an Zweckmäßigkeit interessierte, also pragmatische Kunst aber vergessen die bloggenden Designer zu schnell diejenigen, die nicht ihrer Zunft angehören.

Die Internet-Avantgarde bewegt sich schneller als alle bisher dagewesenen Vorreiter einer Kunst, mit jeder neuen Webentwicklung wird eine alte verworfen, was 2006 noch neu war, ist heute schon wieder völlig veraltet. Der theoretische Diskurs bleibt in den meisten Diskussionen aus, für mehr als ein „Gut“ oder „Schlecht“ bleibt keine Zeit. Wenn sich das nicht ändert, wird sie sich die Web-Avantgarde nicht als echte Vorhut entpuppen, deren Vorstöße nachhaltige Veränderungen zur Folge haben, sondern lediglich als eine Gruppe von Trendsettern, die kurze Modewellen ausgelöst haben.

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