Walter Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm, ist im Berliner Stadtteil Charlottenburg aufgewachsen. Ihm zu Ehren wurde im Jahr 2000 ein neu gestalteter Platz in der Nähe des Kurfürstendamms benannt. Längs der Anlage erheben sich die Leibniz-Kolonnaden und eine mit Sandstein verkleidete Lochfassade, die um die Jahrtausendwende nach Entwürfen des Architekten Hans Kollhoff gebaut wurden. Die Gestaltung ist aktuell Gegenstand eines medialen Skandals, den der Architekturtheoretiker Stephan Trüby gemeinsam mit Redakteuren der „Zeitschrift für Architektur und Urbanismus“ ARCH+ angestoßen hat.
Antisemitischer Code
Kollhoffs Bebauung sei „eine Architektur, die nicht nur stilistisch, sondern auch programmatisch eine Verneigung vor dem italienischen Faschismus darstellte“, schreibt Verena Hartbaum dort. Der Vorwurf ist nicht neu. Aufgrund ähnlicher Kritik hatte sich bereits der Baubeginn um fast ein Jahrzehnt verzögert. Und er hat durchaus seine Berechtigung: Die Kolonnaden zitieren die Via Roma in Turin, die Mussolinis Chefarchitekt Marcello Piacentini 1936 errichten ließ. Der neue Skandal liegt aber tiefer, eingeritzt in die Granitplatten des Platzes. Dort hat Kollhoff ein namenloses, unscheinbares Zitat eingefügt: „Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein. Die Quadern wohlbehauen, fugenrecht, dass die Stirnfläche sich zum Muster gliedert.“
Das Zitat stammt aus dem Cantos, dem Hauptwerk des US-amerikanischen Dichters Ezra Pound, der 1924 nach Italien ging und zu einem begeisterten Anhänger Mussolinis wurde. Heute dient der Faschist als Namenspatron der rechten Hausbesetzerszene des Casa Pound in Rom, das rechtsextremen Bewegungen in ganz Europa als Vorbild für erfolgreiche Stadtteilarbeit gilt. „Usura“ – der italienische Begriff für Wucher – ist ein kaum codierter Antisemitismus, zu dessen emsigen Lautsprechern Pound gehörte. Ist Kollhoff deshalb ein Antisemit? Diese Frage wird seit Erscheinen des Heftes aufgeregt diskutiert und mitunter schroff zurückgewiesen. Sie verfehlt allerdings die komplexe Kritik, die die Autoren unter dem Titel „rechte Räume“ entfalten. Das Problem mit Kollhoff und anderen konservativen Architekten ist, dass ihr Verständnis von guter Architektur allein ästhetische Kriterien gelten lässt und dabei vermeintlich unpolitisch bleibt, als ob die Auffassung von Schönheit keinen gesellschaftlichen Prägungen unterliege.
Im Sinne dieser „unpolitischen“ Ästhetik, die nur die Erscheinungsformen angreift, kritisiert Kollhoff die „Dekadenz“ der westlichen Gesellschaft. So will er das Pound-Zitat verstanden wissen, als Verweis „auf die im Konsumkapitalismus prekäre Situation des Architekten und die vage Möglichkeit, Architektur überhaupt noch schaffen zu können“. Jedoch unterscheiden sich seine Leibniz-Kolonnaden von der zeitgenössischen Investorenarchitektur nur durch höherwertigere Baumaterialien und eine elitäre Anliegerstruktur. In den ansässigen Gourmetrestaurants und Kanzleien wird Rendite durch distinktiven Konsum generiert, dafür müssen die Fassaden stimmen.
In jedem Gesellschaftssystem ist Architektur ein Machtfaktor, der die Nutzung des öffentlichen Raumes vorgibt. Städtebauliche Auseinandersetzungen sind deshalb auch ein Seismograf von gesellschaftlichen Strukturveränderungen und sozialen Kräfteverhältnissen. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang am Wechselspiel von geschichtspolitischen Interessen und der privatwirtschaftlichen Aneignung des öffentlichen Raumes, das sich in Dresden, Potsdam und Frankfurt am Main beobachten lässt. Trüby hält die populären „Altstadtrekonstruktionen“ in diesen Städten für ein „Schlüsselmedium der autoritären, völkischen, geschichtsrevisionistischen Rechten“. Tatsächlich sind diese maßgeblich durch bürgerliche Eliten vorangetriebenen Projekte auch ein Einfallstor für rechtspopulistische Metapolitiker, wie der Junge-Freiheit-Autor Claus Wolfschlag unumwunden ausspricht: „Wer von Volk oder Heimat reden will, kann von der Architektur (in und mit welcher das Volk ja schließlich lebt) wohl nicht schweigen.“ Wolfschlag formulierte als Fraktionsmitarbeiter der Freien Wähler BFF (Bürgerbündnis für Frankfurt) im September 2005 einen Antrag, der zum Bau der Neuen Frankfurter Altstadt führte. Hinter seiner Forderung nach einer „Heilung der Wunden“ des Zweiten Weltkrieges steht ein geschichtspolitisches Programm. In der österreichischen Zeitschrift Neue Ordnung spekuliert er wenig später über ein Ende des „Schuldkultes“ und die „Wiedergewinnung architektonischer Identität“.
Das sind keine neuen Ideen. Bereits vor 25 Jahren problematisierte ARCH+ im Themenheft Von Berlin nach Neuteutonia die revisionistischen Architekturdebatten, die im Zuge der Verlegung der bundesdeutschen Hauptstadt ausgetragen wurden. Damals erfolgte in den Planungsentwürfen für ein neues Zentrum und den Potsdamer Platz eine Rehabilitierung von schwerer, tektonischer und verdichteter Architektur, die sich an Leitbildern der „kritischen Rekonstruktion“ und historisierenden Gestaltungselementen wie Fluchtlinien, Traufkanten und der Parzelle als grundlegendem Strukturelement orientierte. Die neue Formensprache mit einer Referenz an den preußischen Stil war ein klarer Bruch mit der modernen Architektursemantik der alten Bundesrepublik, die durch den Rückgriff auf Glas und Beton sowohl ihre Westbindung als auch die Transparenz und Offenheit ihrer öffentlichen Gebäude und Institutionen unterstreichen wollte. Kollhoff, der in seinen damaligen Vorlesungen an der ETH Zürich den Baustoff Glas als „klapprig“ bezeichnete und – wie Pound – Bauten aus „solidem“ Stein forderte, begeisterte sich stattdessen für die Monumentalität der stalinistischen Architektur, wie sie die Berliner Karl-Marx Allee dominiert. Sie sei „Ausdruck eines kollektiven Interesses, das uns heute doch so offensichtlich abgeht“.
Ein ganz ähnlicher Machtanspruch wurde zur gleichen Zeit von revisionistischen Historikern wie Rainer Zitelmann und Karlheinz Weißmann im Sammelband Die selbstbewusste Nation erhoben. Geschichte sollte als Baukasten dienen, aus dem man sich zur nationalen Selbstvergewisserung selektiv bedient. Im beginnenden Umbau Berlins der 1990er Jahre ging es darum, die Macht der neuen Sieger der Geschichte über Grundeigentum und Gesellschaftsentwürfe sichtbar zu machen. „Offen gelassen wird da nichts. Da wird entschieden. Da wird erfüllt“, kritisierten Nikolaus Kuhnert und Angelika Schnell in ARCH+ damals den Gestus der neuen Berliner Architektur.
„Geschichte ist mir scheißegal“
Nicht immer braucht es aber ein offen nationalistisches Programm. Auch sich betont bürgerlich gebende Initiativen, die die Rekonstruktionsprojekte vielerorts begleiten, agieren strukturell populistisch. Unter dem Deckmantel des Bürgerengagements hat etwa die Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden e.V. (GHND) als Lobbyverband mit besten Beziehungen zur privaten Bauwirtschaft großen Einfluss auf die Entscheidungen der Stadtbaupolitik und die Architekturkritik in den lokalen Medien erlangt. Auf dem Höhepunkt eines Symposiums trat der rechtskonservative Architekt Léon Krier ans Mikrofon und äußerte schließlich einen Satz, der das Anliegen der Stadtrekonstruktion zur Kenntlichkeit entstellte: „Geschichte ist mir scheißegal. Hauptsache es ist schön.“ Kriers Ausgangspunkt ist ein angeborenes ästhetisches Gefühl, das vorgesellschaftlich gedacht wird. So, als gäbe es über alle Zeiträume der Menschheitsgeschichte hinweg die gleichen objektiven Kriterien für Schönheit, wie er in der Zeitschrift CATO, die dem Umfeld der Jungen Freiheit entstammt, immer wieder betont: „Die Konjunktur des Modernismus ist eine Konjunktur der Lüge und der Heuchelei, die aber vor der ästhetischen Urteilskraft des Individuums haltmacht ... In den wunderbaren Rekonstruktionen von Frankfurt, Dresden, Berlin und Potsdam manifestiert sich endlich wieder das spontane und von keiner Heuchelei verstellte ästhetische Urteil.“
Heute betreiben rechte Akteure unter dem Deckmantel unpolitischer Architektur eine entschlossene Metapolitik des Raumes. Gegen solche Vorstöße schrieb Walter Benjamin 1935 seinen Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, dessen Schlusssatz man Kollhoff ins Stammbuch schreiben könnte: „So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.“
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