Der Kontrolleursverlust

Verkehr Die Regierung redet von Bussen und Bahnen zum Nulltarif für alle. Ist das realistisch oder illusionär?
Ausgabe 08/2018

Haben jetzt auch Union und SPD ein Herz für den Kommunismus? Die geschäftsführende Bundesregierung schlägt einen „kostenlosen öffentlichen Nahverkehr“ vor – als eine von acht Maßnahmen für bessere Luftqualität in deutschen Städten. Die Idee, in einem Papier an die EU-Kommission genannt, hat gleich eine öffentliche Debatte ausgelöst. Die Grünen nannten die Ankündigung unglaubwürdig, der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen verweist auf das fehlende Geld. Und die Regierung räumt ein: Man wolle mit Ländern und Kommunen zwar über den Nahverkehr zum Nulltarif reden. Konkrete Pläne gebe es aber nicht.

Der Vorschlag war wohl eigentlich als Beruhigungspille gedacht – für die EU-Kommission, die eine Klage gegen Deutschland erwägt, weil hierzulande in zahlreichen Großstädten die Stickoxid-Grenzwerte überschritten werden und die Bundesregierung seit Jahren untätig bleibt. Eine Regierungsoffensive für kostenlose Busse und Bahnen wird es also vorerst nicht geben. Trotzdem ist es gut, dass zumindest in der breiteren Öffentlichkeit über das Thema diskutiert wird. Schließlich ist ein ÖPNV zum Nulltarif keine Spinnerei, sondern ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur sozial-ökologischen Stadt der Zukunft.

Die Idee klingt nach einem Traum der Linken: Alle Menschen dürfen fahren, so oft sie wollen, egal ob arm oder reich. Und umweltfreundlich ist es auch! Gleichzeitig ist der Vorschlag gar nicht so revolutionär, wie er auf den ersten Blick scheint: An zahlreichen Hochschulen gibt es ein Semesterticket für Studenten, das durchaus bezahlbar ist. Warum sollte das nicht für alle Menschen möglich sein?

Gib Geld, Bund!

Bedenken kommen allerdings vom ökologischen Verkehrsclub VCD. Der Vorschlag der Bundesregierung sei ein „aktionistischer Schnellschuss und wenig durchdacht“, erklärt der Verein. „Damit er funktioniert, brauchen die Kommunen Geld aus dem Bundeshaushalt.“ Und dieses Geld könnte man alternativ auch dafür nutzen, das ÖPNV-Angebot zu erweitern, um mehr Menschen zum Umstieg zu bewegen. Der VCD will daher die Fahrpreise halbieren und das Angebot verdoppeln. Sprich: mehr Linien, höherer Takt, kürzere Umstiegszeiten.

Dafür sprechen auch Umfrageergebnisse: Der Verkehrsclub hat Autofahrer befragt, was sich bei der Bahn ändern müsste, damit sie ihren Wagen stehen lassen. Ganz oben auf der Liste: Flexibilität, Zeitgewinn, Pünktlichkeit, Komfort, Verfügbarkeit. Erst an sechster Stelle kommt der Preis. Kein Wunder, schließlich ist das Auto heute schon deutlich teurer als Bus oder Bahn, auch wenn immer wieder das Gegenteil behauptet wird.

Aus Umweltperspektive setzt ein Nulltarif im Nahverkehr auch falsche Anreize. Zum einen würden nicht nur Autofahrer, sondern auch Fußgänger und Radfahrer umsteigen. Zum anderen müsste der motorisierte Verkehr eigentlich nicht billiger, sondern teurer werden, damit weniger CO2 ausgestoßen wird. Freilich funktioniert das nur, wenn auch Benzin für die Autos endlich so teuer wird, dass der Preis den Kosten für die Klimaschäden entspricht. Um weiterhin allen Menschen Mobilität zu ermöglichen, könnte der Staat im Gegenzug die Sozialleistungen anheben.

Fazit: Aus ökologischer Sicht gibt es bessere Maßnahmen als den Nahverkehr zum Nulltarif. Trotzdem wäre dieser Schritt – bei ausreichender Finanzierung – eine Verbesserung zum Status quo. Zudem schließen kostenlose Busse und Bahnen auch zusätzliche Maßnahmen zur ökologischen Verkehrswende nicht aus.

Stellt sich noch die Frage der Finanzierung. „Kostenlos“ ist der Nahverkehr nie, für Busse und Bahnen fallen immer Ausgaben an. Sollte man lieber von „öffentlich finanziertem“ Nahverkehr sprechen? Allerdings sind die Tickets schon heute massiv staatlich subventioniert. Einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge macht der Verkauf der Fahrscheine nur 37 Prozent der Einnahmen aus, 67 Prozent kommen aus öffentlichen Quellen. Kann der Staat dann nicht auch alles bezahlen?

Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) erklärt, dass durch den Nulltarif etwa 12 Milliarden Euro pro Jahr fehlen würden. Das klingt viel, bedeutet aber, dass jeder Deutsche im Monat nur wenig mehr als zehn Euro zu zahlen hätte. Zu bedenken wäre allerdings, dass vermutlich auch mehr gefahren würde, der VDV rechnet mit einem Plus von einem Drittel. Auch dürfte es ein Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land geben: In Städten wird der ÖPNV mehr genutzt, also müssten Stadtbewohner entweder über Abgaben mehr zahlen, oder – falls der Nahverkehr über allgemeine Steuern finanziert wird – die Landbevölkerung subventioniert den vergleichsweise gut ausgebauten ÖPNV in den Städten.

In Berlin hat 2015 die damalige Piratenfraktion eine Machbarkeitsstudie erstellen lassen. Ergebnis: Selbst in einer Stadt mit gut ausgebautem S- und U-Bahn-Netz ist die Flatrate-Mobilität noch bezahlbar, beispielsweise über einen Beitrag. Die meisten Berliner müssten dann knapp 50 Euro im Monat zahlen, rund ein Drittel käme in den Genuss des ermäßigten Preises von 15 Euro. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre müssten keinen Beitrag leisten. Das höhere Verkehrsaufkommen ist in der Kostenrechnung schon berücksichtigt – die wegfallenden Kosten für Fahrscheinkontrollen und Ticketautomaten ebenfalls.

Klar ist auch, dass ein Nahverkehr zum Nulltarif zunächst mit zusätzlichen Investitionen in die Infrastruktur verbunden ist. VDV-Präsident Jürgen Fenske warnt: „Schon heute drängeln sich die Fahrgäste überall in Bussen und Bahnen. Ein kurzfristiger, sprunghafter Fahrgastanstieg würde die vorhandenen Systeme vollständig überlasten.“

Unterm Strich ist ein gut ausgebauter, kostenloser Nahverkehr jedoch billiger als das ständige Herumgefahre mit dem Auto. Selbst ohne die Umweltkosten ist eine Pkw-Fahrt heute schon ungefähr fünf Mal so teuer wie die Fahrt mit Bus oder Bahn. Dass Autofahren so billig erscheint, liegt nur daran, dass viele Kosten, etwa für Werkstatt, Versicherung oder Wertverlust des Wagens, übersehen werden.

Für die Gesellschaft ist der Nulltarif im Nahverkehr ohnehin ein Gewinn. Das Leben wird angenehmer, wenn wir auf Ticketautomat und Fahrscheinkontrollen verzichten können. Wenn Geld keine Rolle mehr spielt. Wenn eine Welt vorstellbar wird, in der die Bedürfnisse von allen Menschen befriedigt werden. Zumindest ein Stück weit würde Kommunismus im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar.

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