Die Entscheidung könnte Deutschland teuer zu stehen kommen. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima beschloss im Bundestag eine ganz große Koalition den Atomausstieg. Was die meisten Abgeordneten von Union, FDP, SPD und Grünen wohl nicht wussten: dass es bei der Weltbank in Washington D.C. ein internationales Schiedsgericht gibt, das im Geheimen tagt und Deutschland zu einer Milliardenstrafe verurteilen kann. Genau das versucht der Energiekonzern Vattenfall derzeit zu erwirken. Am 31. Mai 2012 wurde die Klage beim International Centre for Settlement and Investment Disputes (ICSID) registriert.
Es geht um rund 3,7 Milliarden Euro und um die Frage, ob ein demokratisch gewähltes Parlament über die Energiepolitik der Bundesrepublik entscheidet oder ein Schiedsgericht, das aus drei Personen besteht, die hinter verschlossener Tür verhandeln. Vattenfall beruft sich auf die Energiecharta, einen internationalen Vertrag, der „die Rahmenbedingungen für solide Investitionen verbessern und einen reibungslosen Handel sichern“ soll, wie die Bundesregierung es formuliert.
Entwicklungsländer am Pranger
Deutschland hat diesen Vertrag unterschrieben, ausländische Unternehmen können vor dem ICSID klagen, wenn sie sich benachteiligt, ihre Investitionen in Gefahr sehen. Weltweit gibt es jede Menge ähnlicher Investitionsschutzabkommen, meist zwischen zwei Ländern geschlossen. Die Unternehmen können dann das jeweils andere Land verklagen.
Schätzungen gehen von mehr als 3.000 solcher Verträge aus, alleine Deutschland hat 131 abgeschlossen. Wahrscheinlich wird es eine Klage-Klausel auch im Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA geben, das derzeit verhandelt wird.
In vielen Verträgen wird das ICSID als Schiedsgericht genannt, dort stehen meist die Entwicklungsländer am Pranger, die westeuropäischen Staaten hingegen nur in zwei Prozent der Fälle, wie die Statistik zeigt. Dass Vattenfall nun Deutschland verklagt – ein Land, das sich stets für die Rechte der Investoren stark macht –, freut nun heimlich manche Kritiker dieser Abkommen.
Über den Fall ist öffentlich fast nichts bekannt, selbst Bundestagsabgeordnete erfahren kaum etwas. Als der Linkspolitiker Ralph Lenkert im März vergangenen Jahres fragte, wie die Bundesregierung „die Information des Parlaments und der Öffentlichenkeit gestalten“ wolle, erhielt er in einem Satz die schroffe Absage: „Die Schiedsverfahren nach der ICSID-Konvention sind vertraulich.“
Wenige Infos zu der Klage
Lenkert setzte das Thema daraufhin auf die Tagesordnung des Umweltausschusses, nun fühlte sich das Wirtschaftsministerium immerhin bemüßigt, den Politikern eine DIN-A4-Seite vorzulegen. Besonders aussagekräftig ist dieses Blatt Papier jedoch nicht. Zur Argumentation von Vattenfall heißt es dort lediglich: „Die Klägerseite trägt vor, dass bestimmte Investitionen im Energiesektor durch gesetzliche Änderungen nachträglich an Wert verloren hätten, und begehrt Schadensersatz.“ Darüber hinaus mache die Bundesregierung keine Angaben; es sei Aufgabe des ICSID, die Öffentlichkeit zu informieren.
Dort gibt es auf der Website tatsächlich jede Menge Details zu allen Streitfällen, die Daten werden sogar täglich aktualisiert. Über den Vattenfall-Prozess erfährt man etwa, dass am 17. und 18 Juni die erste Verhandlungsrund war, oder dass der Konzern am 27. September die Klageschrift eingereicht hat. Zu den Inhalten jedoch findet sich kein einziges Wort. Auch der weitere Verlauf des Verfahrens bleibt geheim. Das ICSID verweist auf die Prozessbeteiligten.
Vattenfall blockt völlig ab. „Zu laufenden Verfahren äußern wir uns generell nicht“, teilt eine Unternehmenssprecherin mit. Das Wirtschaftsministerium erklärt immerhin, dass nun mehrere Monate Zeit seien, um zur Klage Stellung zu nehmen. Das Verfahren könne noch mehrere Jahre dauern. Nach Freitag-Informationen soll das Hauptverfahren für Februar 2016 angesetzt sein.
Zu den Inhalten erklärt das Ministerium lediglich, dass es um die Kernbrennstoff-Steuer geht und das Ausstiegsgesetz. Mehr nicht.
In der Geheimschutzstelle
Zumindest bekommen die Abgeordneten inzwischen Zusammenfassungen zum Verfahren. Die als geheim oder vertraulich eingestuften Dokumente liegen in der Geheimschutzstelle des Bundestags aus, nur die Politiker dürfen sie einsehen. Die Originaldokumente fehlen jedoch, die Politiker müssen sich darauf verlassen, dass das Wirtschaftsministerium die Zwischenstände korrekt wiedergibt. Laut Ministerium werden die Unterrichtungen „anlassbezogen aktualisiert“, aus dem Bundestag ist zu hören, dass dies etwa alle drei Monate geschieht.
Offiziell dürfen die Abgeordneten nicht über die Dokumente sprechen, dennoch sickern Informationen durch. In der Berliner Zeitung war im Frühjahr zu lesen, dass Vattenfall 3,7 Milliarden Euro fordere. Das Unternehmen sehe sich durch den schwarz-gelb-rot-grünen Atomausstieg benachteiligt gegenüber dem sogenannten Atomkonsens, der im Jahr 2000 zwischen der damaligen rot-grünen Regierung und den Energiekonzernen vereinbart wurde.
Die Laufzeiten seien nun kürzer, dadurch entgehe Vattenfall ein Gewinn in Höhe von fast drei Milliarden Euro. Hinzu kämen rund 900 Millionen Euro an Investitionen, die das Unternehmen angeblich nicht getätigt hätte, wären die früheren Abschalttermine seit jeher klar gewesen. Inzwischen gibt es das Gerücht, die Forderungssumme habe sich erhöht.
Für Deutschland könnte es also teuer werden. Da fällt es fast schon nicht mehr ins Gewicht, dass im Wirtschaftsministerium vier Personen nur damit beschäftigt sind, die Prozessverhandlungen zu koordinieren. Schon jetzt sind mehr als eine halbe Million Euro an Kosten angefallen, für das kommende Jahr hat die Bundesregierung im ersten Entwurf für den Haushaltsplan 2,2 Millionen Euro veranschlagt, wie sie auf eine Anfrage der Grünen-Politikerin Sylvia Kotting-Uhl schreibt.
Die Klagen der Energieriesen
Die Regierung steht dennoch weiterhin zum Investitionsschutz. Vielleicht auch, weil es vor allem die Länder in Asien, Südamerika oder Afrika trifft. Die Statistik des ICSID zeigt, dass nur in zwei Prozent der Fälle ein westeuropäischer Staat verklagt wurde oder werden soll. Dafür profitieren viele Firmen aus den Industriestaaten.
Die Schiedsverfahren bringen eine Reihe weiterer Probleme mit sich: Nicht nur wird dem Parlament die Gesetzgebungskompetenz streitig gemacht, es gibt auch ein Ungleichgewicht zwischen inländischen und ausländischen Unternehmen. Gegen den deutschen Atomausstieg haben die drei Energieriesen RWE, Eon und Vattenfall Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, vor ein internationales Schiedsgericht konnte aber nur der schwedische Konzern Vattenfall ziehen.
Keine unabhängigen Richter
Zudem sehen Kritiker der internationalen Schiedsgerichte mögliche Interessenkonflikte bei den Richtern. Geurteilt wird von drei Personen, jede Partei entsendet einen Vertreter, die beiden sollen sich auf einen Vorsitzenden Richter einigen, ansonsten wird der vom ICSID bestimmt. Die Personen wechseln munter die Rollen: Im Vattenfall-Prozess wurde der Niederländer Jan van den Berg zum Vorsitzenden berufen, in anderen Fällen vertrat er mal die Ankläger, mal die Staaten. Unabhängige Richter sehen anders aus.
Laut einer Studie der NGO Corporate Europe Observatory ist es nur eine kleine Gruppe aus 15 Personen, die über mehr als die Hälfte aller Schiedsverfahren mitentscheidet – für unterschiedliche Seiten.
„Das Gehalt der Richter steigt mit jedem Fall“, sagt Pia Eberhardt von Corporate Europe Observatory. „Wenn das System investorenfreundlich bleibt, verdienen die Leute mehr Geld.“ Zudem könnte ein Richter befangen sein, wenn eine Kollegin aus der gleichen Kanzlei mit einem ähnlichen Fall zu tun hat und dort eine der beiden Seiten vertritt. Sie könnte sich dann auf das Urteil berufen.
Eberhard fordert, Investitionsstreitigkeiten „vor ordentliche Gerichte zu bringen“. Vorstellbar sei auch ein internationaler Investitionsgerichtshof, vor dem dann aber nicht nur Konzerne, sondern auch Länder und Gemeinden klagen können sollten, etwa im Falle einer Ölkatastrophe.
Weiter wie bisher
Die Bundesregierung hingegen steht zur bisherigen Praxis und will sie fortsetzen: „Investitionsförderungs- und -schutzverträge haben sich als hilfreiches Instrument bewährt, das international das Vertrauen von Investoren in Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit im Anlageland stärkt“, schreibt das Wirtschaftsministerium.
Im Freihandelsabkommen zwischen EU und USA sei eine Klagemöglichkeit jedoch „nicht erforderlich“, da „die deutsche Rechtsordnung amerikanischen Investoren bereits angemessenen Rechtsschutz gewährt“. Die EU-Kommission hingegen pocht auf die Klagemöglichkeit. Die Grünen-Politikerin Ska Keller kritisiert, dass sich die Bundesregierung nicht dagegen wehrt, weil dieser das Thema „nicht wichtig genug“ sei.
Abgeschwächte Umweltstandards
Verzichten einige Staaten aus Angst vor Klagen womöglich sogar auf politische Regulierung? Vattenfall hat schon einmal gegen Deutschland geklagt, als die Hamburger Umweltbehörde dem Kohlekraftwerk in Moorburg wasserrechtliche Vorgaben gemacht hatte. Damals forderte der Konzern 1,4 Milliarden Euro.
Das Verfahren wurde im Februar 2011 beendet, im Sinne von Vattenfall. Die Einigung basierte auf einem Vergleich, der vor dem Oberverwaltungsgericht Hamburg geschlossen wurde: Die Umweltstandards wurden abgeschwächt.
Im Streit über den Atomausstieg zumindest steht diese Option nicht zur Debatte. Das Wirtschaftsministerium schreibt über die Absichten von Vattenfall: „Gefordert wird ausdrücklich nicht die Rücknahme der 13. Atomgesetznovelle, sondern eine finanzielle Entschädigung.“ Der Atomausstieg wird also wohl nicht zurückgenommen. Dafür könnte er teuer werden.
Dieser Artikel ist Teil des Wochenthemas "Die Schattenkrieger" über Investitionsschutzabkommen. Sehen Sie auch die Beitrage "So wird Demokratie geschreddert" und "Nichts bleibt, wie es ist"
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