Strahlen ohne Grenzen

Atomkraft Umweltschützer und Politiker können nichts gegen die gefährlichen Altreaktoren im Ausland tun. Oder vielleicht doch?
Ausgabe 16/2016
Haben wir aus Tschernobyl gelernt?
Haben wir aus Tschernobyl gelernt?

Bild: Nikolay Doychinov/AFP

Die Messgeräte knattern ohne Pause, die Radioaktivität ist deutlich höher als sonst. Der Leiter des schwedischen Atomkraftwerks Forsmark schlägt Alarm, der Rundfunk informiert die Bevölkerung. Doch der Reaktor in Forsmark ist gar nicht das Problem. Die Strahlung kommt aus Tschernobyl, dort ist das Atomkraftwerk explodiert. Die Sowjetunion verschweigt allerdings den Unfall und gibt ihn erst später öffentlich zu.

Die Reaktorkatastrophe ist am 26. April nun 30 Jahre her und die nötigen Konsequenzen wurden nie gezogen. Radioaktivität kennt keine Ländergrenzen. Betrieb und Überwachung der Atomanlagen liegen aber noch immer in nationaler Verantwortung. Deutschland hat den Ausstieg beschlossen, doch unsere Nachbarn – von Belgien bis Tschechien – verlängern munter die Laufzeiten ihrer Reaktoren. Bei einem Unfall wären Millionen Deutsche betroffen. Aber die Bundesregierung kann nach geltender Rechtslage praktisch nichts dagegen unternehmen. Es ist daher höchste Zeit, dass die Atompolitik internationalisiert wird. Und auch die deutsche Umweltbewegung sollte die Schwachpunkte im Ausland stärker in den Fokus nehmen.

Das Problem der nationalen Zuständigkeit ist so offensichtlich, dass es selbst die Atomkraftfreunde der CDU erkennen. Trotzdem ändert sich nichts, egal ob Rot-Grün, Schwarz-Gelb oder Schwarz-Rot regiert. Niemand wagt es, sich deutlich in die Atompolitik anderer Länder einzumischen oder gar die europäischen und internationalen Regeln grundlegend zu ändern. Der Skandal wird schulterzuckend hingenommen.

Vage Sicherheitsstandards

Die Institutionen versagen: Die Internationale Atomenergieorganisation berät nationale Aufsichtsbehörden und begutachtet Nuklearanlagen – allerdings in der Regel nur auf Wunsch des jeweiligen Staates. Kein Wunder, dass nicht härter durchgegriffen oder auch mal eine problematische Anlage abgeschaltet wird: Das offizielle Ziel der Organisation ist es, weltweit die zivile Nutzung der Atomkraft zu fördern.

Auch die EU-Kommission könnte sich prinzipiell in die Atompolitik einmischen und gegen einzelne Staaten vorgehen, wenn diese unsichere Reaktoren laufen lassen. Im europäischen Recht sind die Sicherheitsstandards jedoch so vage formuliert, dass in der Praxis nichts passiert.

Trippelschritte in die richtige Richtung

So hoffnungslos die Situation auch scheint: In kleinerem Rahmen gibt es durchaus Handlungsoptionen für die deutsche Politik und die Umweltbewegung. Nach der Pannenserie in den belgischen Kraftwerken Doel und Tihange haben deutsche Atomkraftgegner protestiert und solchen Druck aufgebaut, dass Bundesumweltministerin Barbara Hendricks nach Belgien reiste, um mit dem für Reaktorsicherheit zuständigen Innenminister und der Umweltministerin zu sprechen.

Dabei forderte die SPD-Politikerin, dass bei verlängerten Laufzeiten eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung zur Pflicht wird. Bisher ist die nur beim Bau eines Kraftwerks vorgeschrieben. Bei einer solchen Prüfung werden staatliche Stellen und Bürger der Nachbarländer zwar angehört, doch können Einwände übergangen werden. Am Ende entscheidet weiterhin allein die zuständige nationale Behörde. Trotzdem: Es sind erste Trippelschritte in Richtung einer internationalen Atompolitik – das gibt Hoffnung. Jetzt hat Hendricks um die Abschaltung der Reaktoren „bis zur Klärung offener Sicherheitsfragen“ gebeten. Die Regierung könnte allerdings noch einiges mehr tun.

Es gibt Handlungsoptionen

Erstens sollte sie die Klage der Städteregion Aachen gegen das AKW Tihange vor einem belgischen Gericht unterstützen. Zweitens muss sie generell den Druck auf andere Länder erhöhen, etwa indem die Atompolitik von der Kanzlerin angesprochen wird. Drittens wäre zumindest zu überlegen, ob die Bundesregierung anderen Ländern Geld gibt für das AKW-Abschalten – Luxemburg hat das Frankreich schon angeboten. Viertens sollte sie sich für eine grundlegende Änderung des Euratom-Vertrags einsetzen, mit dem die EU immer noch die Forschung zur Atomkraft finanziert. Fünftens kann sie – wie Österreich – gegen die EU-Kommission klagen, die Subventionen für das geplante britische Atomkraftwerk Hinkley Point C genehmigt hat. Sechstens sollte sie die Lieferung von Brennelementen an ausländische Pannenreaktoren stoppen, am besten werden die deutschen Uranfabriken in Gronau und Lingen per Gesetz geschlossen. Siebtens sollte sie Vorbild sein und hier zeigen, dass Atom- und Kohleausstieg zusammenpassen, indem die Erneuerbaren zügig ausgebaut werden und der Energieverbrauch sinkt. Und achtens muss sie immer wieder darauf hinweisen, dass nur ein weltweiter Atomausstieg wirklich hilft, um die Gefahr eines GAU zu bannen.

Die Umweltbewegung muss sich noch stärker darum bemühen, diese Forderungen auf die politische Tagesordnung zu setzen. Die deutschen Demos gegen die belgischen Reaktoren weisen den Weg. Zudem können Proteste im Ausland unterstützt werden – durch Spenden oder persönliche Teilnahme. Oder man verhindert hier, dass sich deutsche Konzerne am Neubau von Reaktoren im Ausland beteiligen.

Es ist sicher einfacher, die Atompolitik in Deutschland zu ändern als die im Ausland – für Aktivisten wie auch für Politiker. Die Medien kennen die Reaktoren, berichten über Proteste. Und der Bundestag kann direkt Gesetze beschließen. Aber manchmal geht es auch um die Frage, wo Änderungen am dringendsten gebraucht werden. Da gelten keine Ländergrenzen. Das sollten wir aus Tschernobyl lernen.

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