Rezension Im Buch "Homo rapiens rapiens" plädiert Helder Yurén für eine Welt ohne Herrschaft. Doch seine Zukunftsvision könnte unschöne Nebenwirkungen haben
In der Freitag-Community gibt es einen Autor, der regelmäßig durch interessante Beiträge auffällt, die allerdings nie in den Community-Empfehlungen auftauchen. Das hat einen einfachen Grund: Die Texte sind fast durchgängig in Kleinbuchstaben verfasst – was die Online-Redaktion von einer Empfehlung abhält. Helder Yurén aber macht einfach weiter. Auch sein neuestes Buch „Homo rapiens rapiens“ ist kleingeschrieben – ohne Rücksicht auf Konvention und Lesegewohnheit.
Darin zeigt sich schon die Respektlosigkeit vor Autoritäten und das Vertrauen in die Vernunft. Davon handelt auch das Buch. Es geht darin um nichts weniger als die Zukunft, eine gerechte Welt und das Überleben der Spezies Mensch. Er entwirft eine utopische, ne
es Mensch. Er entwirft eine utopische, neue Weltordnung ohne Wahn und Gewalt und beschreibt den Weg dahin – über einen (wissenschaftlichen) Versuch in einem kleinen Land.Leider hält der Autor von Demokratie nicht allzu viel, stattdessen vertraut er auf den Rat von Fachleuten. Mehr Rationalität und wissenschaftliche Beratung in der Politik ist sicherlich nicht verkehrt, doch dieser nahezu uneingeschränkte Glaube an die Wissenschaft ist gefährlich, er wird in einer Expertokratie enden. Niemand kann garantieren, dass die Fachleute, wenn sie alleine die Macht haben, keine eigenen Interessen verfolgen. Dass sie im Interesse der Allgemeinheit handeln.Abgesehen vom Glauben an die Experten ist das Buch aber zu empfehlen. Wegen der manchmal fast schon poetischen Sprache und wegen der angenehm utopischen Sichtweise. Die Realpolitik bleibt außen vor, stattdessen wird alles in Frage gestellt, ganz ohne Denkschranken. Sollte der Boxsport verboten werden? Brauchen wir eine Berechtigung zum Elternsein? Es sind radikale Thesen, die zum Nachdenken anregen. Das utopische Denken hilft als Kompass in einer Welt voller Ungerechtigkeiten, in der wir uns so häufig im politischen Kleinklein verlieren.Eine Frage des ÜberlebensYurén glaubt an das Gute im Menschen, argumentiert gegen Herrschaft und Staat. Er hegt Sympathien für den Anarchismus, schreibt gleich am Anfang des Buches: „es spricht einiges dafür, dass die hochachtung dem staat gegenüber einhergeht mit entsprechender geringschätzung des menschen und umgekehrt.“ Er hält Herrschaft generell für gefährlich, beruft sich dabei auf das Milgram- und das Stanford-Prison-Experiment, zwei psychologische Untersuchungen, die zeigen, zu welch Gräueltaten friedliche Menschen in der Lage sind, wenn sie in Hierarchien eingebunden werden.Für ihn ist klar: Die Herrschaft muss weitestgehend abgeschafft werden, nicht nur, um ein besseres Leben zu ermöglichen, sondern auch, um das Überleben zu sichern. „wenn das nicht geschieht, und zwar in absehbarer zeit, wird die verfügungsgewalt über die massenvernichtungswaffen ein globales feuerwerk zum abschied der menschheit abbrennen.“ Aber er ist optimistisch, glaubt an das menschliche Mitgefühl („kein system konnte es ausmerzen“) und sieht bereits das Ende der staatlichen Ära. „herrschaft, ganz gleich welcher couleur, muss früher oder später scheitern, unter anderem weil die distanz zu den regierten sie ziemlich taub und blind macht für die befindlichkeiten der bevölkerung.“Was sind das für Befindlichkeiten? Vielleicht bloß ein ganz normales, friedliches, gesundes Leben. Im ersten Buchkapitel wird aufgezählt, was heute alles verkehrt läuft. Viele Sachen sind bekannt, werden aber gerne verdrängt. Vielleicht will es auch niemand so genau wissen, wie viele Menschen hungern oder mangels Trinkwasser sterben. Andere Probleme sind im öffentlichen Bewusstsein nicht so präsent. Etwa, dass jedes Jahr mehr als eine Million Menschen durch Verkehrsunfälle sterben. „nirgendwo sonst auf der welt wird so maßlos und regelmäßig getötet wie im straßenverkehr.“ Aber das Wohl der Automobilindustrie hat Vorrang.Eine Elite aus ExpertenAn Kritik wird in dem Buch nicht gespart – auch nicht, wenn es um die Demokratie geht. Yurén beruft sich auf den US-amerikanischen Journalisten Walter Lippmann. „bereits vor 90 jahren schrieb er, die welt sei viel zu komplex für das fassungsvermögen des politisch interessierten staatsbürgers.“ Das mag sein, deshalb sollte auch nicht alles basisdemokratisch entschieden werden, sondern durch Parlamente, mit der Möglichkeit von Volksentscheiden zu wichtigen Fragen. Doch die Parteien kritisiert Yurén, wie auch den Volksentscheid: „in vielen fällen hängt dieser von zufälligen ereignissen und von der medialen meinungsmache im vorfeld des urnengangs ab.“Und wenn Fachleute stattdessen entscheiden, wie es sich der Autor wünscht? „auch experten sind natürlich manipulierbar und den verlockungen der lobbyisten ausgesetzt“ – in der utopischen Welt von Yurén ist der Lobbyismus jedoch verboten. Was das genau bedeutet, bleibt allerdings unklar. Versucht nicht jeder Bürger, die Politik irgendwie zu beeinflussen, ist also Lobbyist in eigener Sache?Der Glaube an den Sachverstand der Experten ist bei Yurén extrem stark ausgeprägt. Er spricht von einer „paradoxen situation, dass in der hightech-gesellschaft einerseits für jeden job eine qualifizierende aus- und weiterbildung verlangt wird, (…) für die schwierigsten und wichtigsten aufgaben aber, das geschäft der gesellschaftsleitung und der erziehung der kinder, ein nachweis der eignung gar kein thema ist.“ Also sollte nicht jeder Politiker werden dürfen? Doch, aber die Politiker werden entmachtet: „im zeitalter der wissenschaft müssen expertengremien im entscheidungsfindungsprozess zumindest so viel gewicht haben wie die berufspolitiker/volksvertreter.“ Dahinter steht die Vorstellung, dass es in der aktuellen, parlamentarischen Demokratie bloß ein „weltanschaulich-ideologisches gerangel“ gebe und die entscheidenden Probleme nicht gelöst würden.Ein blindes Vertrauen in die Fachleute wird aber nicht weiterhelfen. Vielmehr ist es gefährlich, demokratische Prinzipien über Bord zu werfen. Wenn Experten alleine entscheiden, können sie die Interessen der Mehrheit missachten – und zu einer Elite werden, die sich selbst rekrutiert. Wer entscheidet denn, wer als Experte gilt und wer nicht? Das machen die Experten selbst! Ein Korrektiv gibt es nicht. Hat nicht Yurén selbst aufgezeigt, wie gefährlich Hierarchien und Herrschaft sind?Wir brauchen mehr Demokratie, nicht weniger. Nur weil das aktuelle System vor allem machtbesessene Politiker in Spitzenämter spült, ist deswegen nicht gleich die ganze Demokratie eine schlechte Idee.Ausbildung für ElternKontroverse Positionen vertritt Yurén auch in Fragen der Kindererziehung. Zur Familiengründung solle nur „zugelassen“ werden, wer die Elternausbildung erfolgreich besteht. Hier geht es ihm um die Rechte der Kinder, die nicht mehr als Privateigentum der Eltern angesehen werden sollten. Yurén schlägt auch Kinderhäuser vor, in denen Kinder gemeinsam mit Eltern und anderen Erwachsenen fürs Leben lernen – statt Schule.Ist eine Elternausbildung absurd? Sie lässt sich jedenfalls mit dem Wohl des Kindes begründen – anders als bei einer Ausbildung für Politiker. Deren Qualifikation wird dadurch bestätigt, dass genügend andere Menschen sie für fähig halten. Das muss reichen in einer Demokratie.Experiment ZukunftWie stellt sich Yurén eine bessere Welt vor? Sie soll in einem wissenschaftlichen Versuch ausprobiert werden, in einem kleinen Land, zum Beispiel in Montenegro. Dort gäbe es in dem Experiment weder Militär noch Parteienstaat. Eigentum ist erlaubt, jedoch keine Erbschaften und keine ungleiche Machtverteilung aufgrund der Eigentumsverhältnisse. Auch Privatbanken und Privatmedien sind abgeschafft. Bürger können Politik machen, indem sie Vorschläge einreichen. „was aus den eingaben wird, beschließen keine parteiversammlungen, sondern in erster instanz expertenrunden.“ Die „sogenannten volksvertretungen“ sollen „ohne wirkliche macht“ sein, wie heute die Königshäuser in manchen Ländern.Es gibt noch eine übergeordnete Instanz, die sogenannte Ethikative. Zehn Leute, mindestens 60 Jahre alt, sollen Gesetze ethisch bewerten und absegnen, ähnlich wie heute der Bundespräsident. Die Mitglieder des Zehnerrats sollen „außer lebenserfahrung eine vita vorweisen, die im zeichen des kampfes gegen wahn und gewalt stand und steht“. Sobald eine Person ausscheidet, dürfen die übrigen ein neues Mitglied benennen. Faktisch bedeutet das: Hier wird über den Expertengremien noch eine weitere, deutlich exklusivere Elite geschaffen, die sich selbst rekrutiert und nicht kontrolliert wird.So unrealistisch das Zukunftsszenario klingt – vor allem, wenn die anderen Staaten rundherum so weitermachen wie bisher – , so detailliert hat sich Yurén Gedanken gemacht über die Voraussetzungen: Der Kleinstaat soll zwischen 100.000 und zwei Millionen Einwohner haben, die Bevölkerung soll sich freiwillig dazu bereit erklären und das Zukunftsexperiment soll von anderen Staaten, Institutionen oder Privatpersonen eine Anschubfinanzierung bekommen. Das Motiv dafür „sei die notwendigkeit, alternativen aus der auswegslosigkeit zu finden, die der menschheit die chance auf zukunft offenhalten. das setzt allerdings die einsicht großer teile der weltbevölkerung voraus, dass die lage der menschheit miserabel bis hoffnungslos ist.“ Doch selbst wenn das so wäre: Würden die anderen Staaten diesen Versuch zulassen?Unterm Strich dürfte das Zukunftsexperiment keine Chancen auf Realisierung haben. Die Idee ist also ohne praktische Relevanz. Dafür liefert das Buch aber eine radikale Kritik an der aktuellen Gesellschaft sowie interessante Denkanstöße. Und das lässt sich nur über wenige Bücher sagen.
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