Auf glatt sechs Buchpublikationen hat er es in diesem Jahr gebracht. Außerdem hat er eine CD besungen, ganz zu schweigen von seiner enormen tagespolitischen Produktion. Der formale wie inhaltliche Bogen, den er in seinen Werken schlägt, ist ausufernd weit. Das begann im Frühling mit einem Gewaltmarsch durch die Philosophiegeschichte in dem 800-seitigen Theoriewälzer Der Implex, den er mit Barbara Kirchner bei Suhrkamp herausbrachte. Es folgte ein sprachlich dichter Essay, der die Fernsehserie Lost (Diaphanes-Verlag) in ihrer bild- und erzählgewaltigen Komplexität zu fassen vermag. Dann beschäftigte er sich mit der Aktualität von Lenins Staat und Revolution (marxist pocket books-Reihe im Laika-Verlag), für das er ein gut zwanzigseitiges Vorwort geschrieben hat.
Stellenweise schlicht genial ist der 250-seitige Erzählband Kleine Polizei im Schnee (Verbrecher-Verlag). Und mit der Künstlerin Heike Aumüller brachte er den Bild- und Text-Band Verbotene Verbesserungen (Starfrit Publications) heraus – als Mitglieder der Band The Schwarzenbach haben die beiden auch eine minimalistisch klingende Musik-CD mit Texten von ihm veröffentlicht. Im wahrsten Sinn des Wortes gekrönt wird diese eifrige Publikationsserie dieser Tage mit dem 400-seitigen Science-Fiction-Epos Pulsarnacht (Heyne).
Differenzierte, zeitgemäße Zivilisationskritik
Kein Zweifel, für Dath-Fans gibt es in diesem Jahr besonders viel zu lesen, aber gibt es auch ein Element, das die verschiedenen Werke verbindet? Anders gefragt, was haben eine Weltraumsaga wie Pulsarnacht mit kilometerlangen Raumschiffen und einer Stargate-ähnlichen Wurmloch-Infrastruktur, Wladimir Iljitsch Lenins Revolutionsbrevier, von Dath wegen dessen antiliberalen Haltung als hochaktuell gelobt, und eine popkulturelle Mythenlese in Form lyrischer Miniaturtexte wie in Verbotene Verbesserungen gemeinsam? Haben sie überhaupt etwas gemeinsam? Die Antwort lautet, ja, es ist die differenzierte, zeitgemäße Zivilisationskritik. Und die ist zwangsläufig so komplex, wie sie ihrem Wesen nach antikapitalistisch und herrschaftskritisch ist. Faszinierend an Dath ist, wie er diese gesellschaftskritische Lese in so verschiedenen thematischen Feldern und Texten umsetzt.
Der Implex, den der 1970 geborene Autor, Ex-Spex-Chefredakteur und FAZ-Angestellte, zusammen mit Barbara Kirchner geschrieben hat, thematisiert auch die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber). Das „Verjagen der Feen“ stellte für E. T. A. Hoffmann das Urverbrechen des Kapitalismus dar, sozusagen die grundlegende mentale und kulturelle Enteignung, die am Beginn der Moderne steht und in ökonomischer Hinsicht mit dem einherging, was Marx als „ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnete. Die Auslöschung der Poesie und der Siegeszug der Prosa als Folge der bourgeoisen Selbstemanzipation lassen den Realismus zur „ersten Bürgerpflicht“ werden. Und eben diesem Realismus rückt Dath (allein oder in Kooperation mit anderen Künstlern) zu Leibe. Das ist natürlich kein kulturpolitisches Programm im strengen Sinn, sondern vielmehr eine künstlerische Strategie, die seine Texte durchzieht.
Der Ausweg sind die anderen
Die Popkultur ist voller Mythen und „verzauberter“ Wesen samt den dazugehörigen Welten. Vor allem in den Genres Mystery und Science-Fiction tummeln sich die alternativen Realitäten, die unsere politische, soziale und kulturelle Wirklichkeit prismatisch brechen können. Insofern ist Daths Essay über die Fernsehserie Lost paradigmatisch für seine Exkursionen in jenseitige Realitäten, bildet der Schauplatz der Serie doch in nuce eine Gesellschaft und eine Zivilisation ab. Eine Gruppe Überlebender sitzt nach einem Flugzeugabsturz auf einer geheimnisvollen Insel fest, die „wissenschaftlich-technisches Artefakt“, „verhaltenspsychologische Versuchsanordnung“ oder „theologisches Jenseits“ sein könnte. Übernatürliche Phänomene, gruppendynamische Prozesse um Leidenschaft, Schuld und Verantwortung und ein radikales Ausgeliefertsein gegenüber einer höheren Macht, die es stets zu hinterfragen gilt, sind die Rahmenbedingungen, unter denen Möglichkeiten und Grenzen kollektiver Handlungsmacht thematisiert werden. Die Insel zu verlassen, scheint unmöglich. „Der Ausweg, das sind die anderen“, sagt Dath und meint damit, dass es darum geht, sich um andere zu kümmern. „Solipsismus und ausgedachter Erfahrungszweifel haben in Lost nämlich immer Unrecht.“
Dass Gewalt eine tragende Rolle in diesen gesellschaftlichen Aushandlungen und Entwicklungen spielt, schlägt sich direkt in Daths Prosa nieder. In den Erzählungen Kleine Polizei im Schnee geht es immer wieder um Gewalt: die körperliche und psychische in der Familie; die der Straße und auch militärische Interventionen. Einige Figuren tauchen in dem Band immer wieder auf: So eine Soldatin, die erst für die NATO kämpft und schließlich zur Söldnerin wird. Dann gibt es die in einigen Texten wiederkehrenden Personenanordnung, die an ein Computerrollenspiel erinnert, noch einen Psychologen, einen Spurenleser und einen geheimnisvollen Strippenzieher.
In Verbotene Verbesserungen stehen Daths kurze, manchmal nur einige Zeilen lange Texte den Bildern von Heike Aumüller gegenüber, die ebenso apokalyptisch wirkende wie alltägliche Augenblicke miteinander verbinden und Menschen in Grenzbereichen zeigen. Friedlich und konfliktfrei geht es bei Dath nie zu, wobei Gewalt weder verherrlicht noch moralisierend beklagt wird. Vielmehr ist sie einfach Teil einer sozialen Wirklichkeit, egal ob von Tätern begangen oder von Opfern erlitten.
Reptilienartige Wesen, Hunde-Aliens und superintelligente Quallen
Das gilt auch für Pulsarnacht. Der Roman spielt in einer nicht näher benannten Zukunft, in der sich neben Menschen unterschiedliche Spezies in einem Weltraum-Imperium tummeln. Dessen politische Machtzentrale ist der aus einem riesigen Diamanten bestehende Himmelskörper Yasaka, eine Megalopolis. In ihr herrscht die Präsidentin Shavali Castanon, ihr Gegenspieler ist ein ehemaliger Befehlshaber aufständischer Armeen in einem zurückliegenden interstellaren Krieg, er lebt in der Verbannung auf einer riesigen planetenähnlichen Kreatur. Reptilienartige Wesen, deren menschenähnliche Sklaven, Hunde-Aliens und superintelligente Quallen bevölkern das Universum, in dem in einem fort Ränke geschmiedet werden, um sich Waren, Gebiete und technische Entwicklungen anzueignen.
In dieser Welt gibt es keine Krankheiten mehr, dafür mehr als zwei Geschlechter, alle frei wählbar, und da Tote aus Körperteilen reproduziert und reanimiert werden können, kennt man eine Gesetzgebung zur Beschränkung des Alters. Die Nomenklatura der interstellaren Imperial-Demokratie genehmigt sich natürlich den Unsterblichkeitsstatus. Diese Ordnung droht schließlich von einem Moment auf den anderen durch die Titel gebende „Pulsarnacht“ in sich zusammenzufallen. Denn plötzlich setzen alle Pulsarsterne im Universum ihre rhythmischen Aktivitäten aus. In der Folge bricht die staatliche Macht auf Yasaka zusammen, und es kommt zu Naturkatastrophen. Diese soziale und ökologische Implosion verändert kurzfristig die Kräfteverhältnisse, langfristig wird das ganze Herrschaftssystem in Frage gestellt.
Es entsteht das Bewusstsein für eine ökologische Macht, die sich der Beherrschung durch menschliche Rationalität entzieht. Die Vorstellung einer „Pulsarnacht“ geistert darin erst als nicht ernst zu nehmender mythologischer Überrest einer menschlichen Sklavenreligion durch den Roman. Diese menschenähnlichen Sklaven, die Dims, werden schließlich freigelassen und kehren auf ihren ursprünglichen Heimatplaneten zurück. Dort herrscht indessen ein dauerhafter anarchischer Kriegszustand, der halbe Planet steht in Flammen, und in einer archäologischen Siedlung versucht man, sich gegen die ständigen Überfälle von Warlords zu verteidigen.
Solidarische Begegnung
Kann der vielschichtige Implex als Angebot an den Leser verstanden werden, sich an die Orte von gelungenem oder verpasstem „sozialen Fortschritt“ durch den Lauf der Geschichte zu begeben, so öffnet Pulsarnacht eine Vielzahl von Zugängen in eine soziale, kulturelle, wissenschaftliche und politische Möglichkeitsgeographie. Während das Lost-Universum auf eine kleine pazifische Insel passt, weitet Dath in seinem Science-Fiction-Roman den Kampf um zivilisatorische und gesellschaftliche Aushandlung fast ins Unendliche.
Dass sich die Aliens und Menschen dabei sehr weit von unserer Wirklichkeit entfernen, ist eben die Voraussetzung dafür, dass Dath durch sein Personal zeigen kann, wie kollektiver Geist funktioniert. „Beziehungen zwischen Leuten sind Lebewesen. Mehrere können zusammenleben, das ist dann eine Ökologie“, räsoniert die gestürzte Präsidentin am Ende, bevor sie wieder auf ihren Erzfeind und Ex-Geliebten trifft. Ökologie ist hier schlicht und einfach als ein soziales Gefüge zu verstehen, in dem sich Lebewesen aufgeschlossen und solidarisch begegnen. Sie tun das fern von biologischen Zuschreibungen und gesellschaftlicher Hierarchien, von denen es im Kosmos der Pulsarnacht jede Menge gibt. Dietmar Daths Zukunfts-Epos klingt dann sehr versöhnlich aus, was ganz einfach daran liegt, dass sich seine Figuren ihrer Handlungsmacht bewusst werden. Das verändert die Welt zwar nicht mit einem Schlag, es ist aber ein erster Schritt in die Herrschaftslosigkeit.
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