Die Flucht einer Frau

Literatur Anna Kavans Sci-Fi-Roman „Eis“ erzählt von der Grausamkeit männlicher Liebe
Ausgabe 24/2020
„Eis“ ist ebenso eine Allegorie für die tödliche, immer weiter voranschreitende Bedrohung wie auch eine ganz materielle Erscheinung
„Eis“ ist ebenso eine Allegorie für die tödliche, immer weiter voranschreitende Bedrohung wie auch eine ganz materielle Erscheinung

Foto: Dimitar Dilkoff/AFP/Getty Images

Die britische Schriftstellerin Anna Kavan war zeit ihres Lebens eine außergewöhnliche, wenngleich auch stets randständige Figur des Literaturbetriebs. 1901 in Cannes geboren, begann sie Ende der 1920er Jahre als Helen Ferguson mit eher mäßigem Erfolg, sozialkritische Romane zu schreiben, die meist von in kleinbürgerlichen Vorortmilieus eingesperrten Frauen erzählten. Gut zehn Jahre später änderte die an Depressionen leidende, jahrelang suizidgefährdete und heroinabhängige Schriftstellerin nach dem Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium ihren Namen in Anna Kavan um. So hieß zum einen die weibliche, gegen gesellschaftliche Zwänge ankämpfende Hauptfigur in einem ihrer Romane, zum anderen sollte der neue Name, der nicht nur ein schriftstellerisches Pseudonym war, an Franz Kafka erinnern. Im angloamerikanischen Raum erlebt Anna Kavan, in deren dystopischem Werk sich ebenso feministische Positionen wie eine Thematisierung der damals noch kaum wahrgenommenen Umweltzerstörung finden, gerade eine verstärkte Rezeption.

Ihr wichtigster Roman Eis, ein literarisch anspruchsvoller Text, der ebenso autobiografische wie experimentelle Züge trägt und außerdem eine komplexe Science-Fiction-Erzählung bietet, erscheint nun erstmals in der auf literarische Perlen spezialisierten „Forward Fiction“-Reihe des Diaphanes-Verlags auf Deutsch – 50 Jahre nachdem das englische Original herausgekommen ist. Der knapp zweihundertseitige Text wird aus der Perspektive eines Mannes erzählt, der auf der Suche nach seiner ehemaligen Geliebten um die halbe Welt reist, um sie immer genau dann wieder zu verlieren, sobald er sie gefunden zu haben glaubt. Die Erde versinkt währenddessen in Krieg, Zerstörung und Chaos. Das titelgebende Eis ist ebenso eine Allegorie für diese tödliche, immer weiter voranschreitende Bedrohung wie auch eine ganz materielle Erscheinung. Denn riesige Eiswände überziehen den Planeten, frieren die Meere ein und bedecken alles mit einer weißen Schicht aus Eis und Schnee. Während der Erzähler durch verschiedene Städte und Länder reist, in denen die globale Katastrophe bereits mehr oder weniger vorangeschritten ist, trifft er auch auf den neuen Liebhaber seiner Freundin. Der ist Politiker und seine Macht wächst im Lauf der zunehmenden Katastrophe immer weiter an. Erst ist er für den Erzähler eine Art Freund und sogar Helfer in der Not, dann wird er plötzlich zur eigentlichen Bedrohung.

Anna Kavan entwirft in diesem Roman eine düstere, aber ebenso fantastische Welt, die mal fast mittelalterlich oder frühneuzeitlich, dann wieder ganz hypermodern anmutet. Krieg und Klimakatastrophe haben einen Ausnahmezustand erzeugt, unter dem die Menschen leiden und der nur schwer einzuschätzen ist. Auch das verleiht diesem Buch während der Corona-Pandemie eine ganz eigentümliche Aktualität und Brisanz.

Surrealer Albtraum

Eis ist ein literarisch ungemein dichter Text, den Kavan überaus pointiert und konzis zu erzählen weiß und der zugleich wie ein langer surrealer Albtraum wirkt. Die Schriftstellerin reiste zwischen 1939 und 1943 von Kalifornien über Bali und Indonesien nach Neuseeland, mit zahlreichen längeren Aufenthalten. Die Erzählung über eine im Krieg aus den Fugen geratene Welt, die in Eis aus der Sicht eines Reisenden erzählt wird, trägt insofern eindeutig autobiografische Züge. Gleichzeitig wird die Flucht einer Frau erzählt, die verschiedene Männer in Beziehungen kontrollieren und unmündig zu halten versuchen und die sich dagegen erbittert wehrt. Diese Thematik zieht sich als roter Faden durch Anna Kavans literarisches Werk, weswegen ihre Literatur in jüngster Zeit auch vermehrt von feministischer Seite Beachtung findet. In Eis wird dies verstörend und brutal in Szene gesetzt, sodass bald klar wird: Die vermeintlich romantische Suche des liebenden Mannes nach einer Frau ist in Wirklichkeit eine rücksichtslose und grausame Verfolgungsjagd. Dies beginnt fast harmlos auf der Folie eines Romans des sozialen Realismus aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, mit einer Autofahrt durch eine nächtlich verschneite Landschaft, um dann zu einem furiosen, außergewöhnlich temporeichen Stück Literatur zu werden. Dabei hat der mitunter lyrische Text, der komplexe literarische Sujets entwirft, seine Tücken und es ist nicht immer ganz einfach, ihm zu folgen. Wer anspruchsvolle Fantastik zu schätzen weiß oder bereit ist, sich einfach auf diese außergewöhnliche Lektüre einzulassen, wird das Buch aber trotz einiger Längen nur schwer aus der Hand legen können.

Info

Eis Anna Kavan Werner Schmitz, Silvia Morawetz (Übers.), Diaphanes 2020, 184 S., 18 €

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