Die Trittbrett-Autoanzünder

Linke Szene In Berlin brennen so viele Autos wie noch nie. Die meisten Brandstifter dürften jedoch nicht aus der autonomen Szene stammen. Von dort kommen meist gezielte Anschläge

Brennende Autos haben in Berlin derzeit Hochkonjunktur. Kaum eine Nacht vergeht, ohne dass Pkw angezündet werden. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich und bekundete „große Sorge“. SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz sprach gar von einer „Vorstufe zum Terrorismus“. Und Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit gab kleinlaut zu: „Wir stochern da tatsächlich etwas im Nebel herum.“

Um zu spekulieren, wer die Täter sind und was sie motiviert, fährt die Presse ein ganzes Heer an Gewaltforschern und Kriminalsoziologen auf – ein Reflex des expertenverliebten Medienbetriebs, der mit dieser Kaffeesatzleserei aber lediglich signalisiert: Wir haben keine Ahnung. Ergänzt werden die Spekulationen durch Statistiken, Grafiken und Berliner Stadtpläne, auf denen rote Punkte die über 260 Brandanschläge auf Pkw in diesem Jahr sichtbar machen. Klarer wird dadurch aber nichts.

Keine klare Grenze

Die zentrale Frage lautet: Sind die Brandstiftungen politisch motiviert oder nicht? Das Anzünden von Fahrzeugen gehört seit Jahrzehnten zum Instrumentarium linksradikaler Politik. Derzeit brennen aber so viele Autos, dass man kaum mehr von einem politischen Phänomen ausgehen kann. Vielmehr befindet sich im Kielwasser politisch motivierter Täter offenbar eine nicht genau bestimmbare Menge an Trittbrettfahrern, die ihre Anschlagsziele beliebig auswählt. Genau in dieser Beliebigkeit liegt der grundlegende Unterschied zur politischen Tat. Vielleicht reagieren die Trittbrettfahrer auf die Krawalle in London, oder sie bauen einfach nur Frust ab – sei es aus Langeweile oder aufgrund sozialer Spannungen.

Exakt lässt sich die Grenze zwischen politischer Tat und reinem Vandalismus ohnehin nicht ziehen. Vielmehr gibt es eine Grauzone, die sich einer konkreten Analyse entzieht – schließlich sind die Täter unbekannt. Nach Ansicht der Berliner Polizei ist lediglich die Hälfte der Anschläge politisch motiviert. Maßgabe ist dabei der Fahrzeugtypus, wobei unterstellt wird, dass das Anzünden von Luxusklassewagen politisch sei. Doch das muss nicht immer stimmen. Als im Oktober 2009 das Auto eines namentlich bekannten Berliner Neonazis angezündet wurde, ging die Polizei von keinem politischen Tatmotiv aus, denn es handelte sich um einen zehn Jahre alten Daihatsu. Diese Einschätzung änderte sich erst, als in einem Internetforum ein linkes Bekennerschreiben auftauchte.

Randale ähneln Börsenkursen

Autos brannten in Berlin schon immer. In der Vergangenheit gab es aus der autonomen Szene aber eher gezielte Anschläge. Im Vorfeld der Proteste gegen den Internationalen Währungsfonds im September 1988 wurden zum Beispiel 13 Firmenwagen von Siemens angezündet. Als 2002 der Politik-Professor Peter Grottian den 1. Mai in Berlin-Kreuzberg mit Informations- und Diskussionsveranstaltungen „repolitisieren“ wollte, kam er bei der antiautoritären linken Szene leidlich schlecht an. Sein Auto wurde angezündet, während er bei einem Bündnistreffen war. Und im einen oder anderen Jahr stürmte vor dem 1. Mai schon mal ein Trupp Vermummter durch Kreuzberg und steckte ein paar Pkw an, um dann in die dunkle Nacht abzutauchen. Mit den aktuellen Brandanschlägen hat ein derart zielgerichtetes und performanceartiges Vorgehen nichts zu tun.

Das blindwütige Anstecken von privaten Autos im gesamten Berliner Stadtgebiet gibt es in dieser Form erst seit dem Winter 2005/2006. Vorbild waren die Krawalle in den französischen Banlieues. Die Zahlen der dort angezündeten Autos liefen über die Newsticker von ntv oder N24 und erinnerten somit auf skurrile Art an Börsenkurse. Ganz im Stil eines erfolgreichen Start-up-Unternehmens protzten die Randalierer täglich mit Zuwachsraten. In drei aufeinanderfolgenden Nächten brannten in ganz Frankreich jeweils mehr als 1.000 Autos – im Laufe der knapp dreiwöchigen Krawalle waren es insgesamt fast 10.000.

"Wir bringen Licht ins Dunkel"

Im November 2005 gab es auch in Berlin die ersten Brandserien. „Feuernacht in Moabit“ titelte die Bild-Zeitung im November 2005. „Wieder eine Nacht der Feuer-Randale“, hieß es nur drei Tage später. Weder Moabit noch der Soldiner Kiez, wo damals der Twingo eines 35-jährigen Kochs ausbrannte, zählen zu den Quartieren der neuen städtischen Eliten, die gemeinhin als Ziel der Anschläge vermutet werden. Schon damals konnte es jeden Beliebigen treffen. Deswegen stimmt es auch nicht, dass die Autoanzünder ihre angestammten Reviere in den Szenebezirken Kreuzberg und Friedrichshain verlassen und jetzt erstmals den kleinen Mittelstand in Charlottenburg heimsuchen. Berlin ist so groß, wie die Auswahl der angezündeten Autos beliebig ist.

Gemeinhin wird die linksradikale Szene als Haupttätergruppe vermutet. Nur darf man sich die nicht als einheitlichen Block vorstellen, sondern vielmehr als kleinteilig ausdifferenziertes politisches Milieu. Dort hat sich mittlerweile ein ganzer popkultureller Apparat zum Thema entwickelt: Es gibt Sprühschablonen mit kleinen brennenden Autos und dem Hinweis „Vorsicht Krisengebiet“, es gibt Plakate mit brennenden Pkw und dem Slogan „Wir bringen Licht ins Dunkel“. Vor einiger Zeit war sogar ein Demo-Transparent mit dem Spruch zu sehen: „Was in Mitte brennt, kann in Neukölln keinen Schaden mehr anrichten“.


Die linksradikale Szene kokettiert mit provokativen Gesten zum kampagnenträchtigen Thema der Gentrifizierung. Deswegen gehen die aktuellen Brandstiftungen aber noch lange nicht auf ihr Konto. Schon vor zwei Jahren gab es bei einer Diskussion in Kreuzberg kritische Töne aus der linksradikalen Ecke. Und auch als unlängst bei der Gedenkdemo für den vor zehn Jahren in Genua getöteten Demonstranten Carlo Giuliani mehrere hundert Vermummte durch Berlin-Kreuzberg jagten und mit der überfordert wirkenden Polizei über Stunden hinweg Katz und Maus spielten, hätte es reichlich Gelegenheiten zum Anzünden von Autos gegeben. Gebrannt hat in dieser Nacht nichts. Stattdessen hingen in Kreuzberg kurze Zeit später Plakate, auf denen sich die anonymen Veranstalter der Demonstration für nicht beabsichtigte Böllerwürfe in Richtung von Passanten entschuldigten. Die linksradikale Szene verblüfft derzeit mit einer nie gekannten Nachbarschaftsharmonie.

Die Zeit der großen Straßenschlachten in den achtziger und neunziger Jahren ist vorbei. Insofern stellt sich die Frage, ob es eine Verschiebung linksradikaler Gewalt gibt – weg vom klassischen Instrumentarium der Massenmilitanz hin zu einer individualisierten pyromanischen Protestkultur. Bestätigt würde diese These dadurch, dass im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007 die Anzahl brennender Autos in Berlin deutlich zunahm. 2008 wurden die Anschläge wieder seltener, 2009 erreichten sie den bisherigen Höhepunkt. Hier ließen sich dann die Auswirkungen des Aufstands in Griechenland im Dezember 2008 ablesen.

Zurück zur Law-and-order-Politik

Im letzten Jahr nahmen die Zahlen in Berlin im ersten Halbjahr wieder deutlich ab, während sie in Hamburg stiegen. Damit stellt sich die Frage, ob es hin und wieder einen generationellen Knick gibt. Das würde auch bedeuten, dass die Brandstiftungen auf eine kleine „Szene“ beschränkt sind. Diese Leute mögen eine gewisse Zeit Spaß haben oder Erfüllung bei ihrem Tun finden, irgendwann lässt das jedoch nach.

Der Starphilosoph Slavoj Žižek bezeichnete die Banlieue-Aufstände 2005 ebenso wie die jüngsten Riots in London als „Protest auf Null-Niveau“. Ähnliches ließe sich auch über die vulgär-antikapitalistische Geste des Autoanzündens sagen. Wenn man sie in ihrer Entstehung und in ihrer aktuellen Erscheinungsform als Spiegel oder Resonanz von Protestereignissen in anderen Ländern versteht, kann man in den aktuellen Brandserien eine Nachahmungslogik der Londoner Krawalle entdecken. Das tut auch die Berliner FDP, die im Wahlkampf zum Abgeordnetenhaus jetzt plakatiert: „Berlin nicht den Chaoten überlassen – damit Berlin nicht London wird!“ Auch die Hauptstadt-CDU setzt seit dieser Woche die brennenden Autos auf ihre Plakate und hat damit zu ihrer klassischen Law-and-order-Politik zurückgefunden. Die Anschläge werden dadurch sicher nicht weniger. Manchen Zündler – egal ob politisch motiviert oder nicht – dürfte das erst recht provozieren.

Anschlagsserie in Berlin: Rund 80 Autos wurden in der vergangenen Woche in Berlin durch Brandanschläge beschädigt. Das entspricht elf pro Tag eine hohe Quote: Im Durchschnitt des letzten Jahres brannte täglich nicht mal ein Wagen. Seit 2005 hat die Zahl der angegriffenen Autos jährlich zugenommen, bis sie 2009 den Rekordwert erreichte: 401 Fahrzeuge. Dieses Jahr könnte dieser Höchststand noch einmal übertroffen werden: Bislang hat die Polizei 348 Brandstiftungen registriert.

Knapp die Hälfte von ihnen (151) werden als politisch motiviert eingestuft. Die Zuordnung werde aber immer schwieriger, sagt ein Polizeisprecher. Vor zwei Jahren habe es deutlich mehr Bekennerschreiben gegeben. Außerdem sinke in der linken Szene die Akzeptanz für brennende Autos. Letztes Jahr gab es nur 54 politisch motivierte Anschläge. FW

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