Rauch über Manhattan

US-Literatur Musterknabe trifft Super-Nerd trifft Millionärinnen-Gatte: Jonathan Lethems Epos „Chronic City“ ist ein großer Abgesang auf New Yorks Subkultur der achtziger Jahre

In den USA gilt der 1964 geborene Jonathan Lethem als einer der wichtigen jüngeren zeitgenössischen Autoren. Als literarischer Chronist Brooklyns hat er seinem Heimatbezirk mit Romanen wie Festung der Einsamkeit und Motherless Brooklyn literarische Denkmäler gesetzt. Hierzulande wird er den Status eines Geheimtipps immer noch nicht ganz los. Das könnte sich mit seinem neuen Roman ändern. In Chronic City geht er quasi fremd und schreibt über Manhattan. Die schöne große Glitzerwelt, die Reichen, Erfolg, Geld und Macht bilden das Hintergrundrauschen dieses 500 Seiten umfassenden New Yorker Epos. Statt randständiger Unter­schicht­figuren aus der New Yorker Peripherie steht mit Chase Insteadman nun ein erfolgreicher, in die Jahre gekommener Musterknabe im Zentrum von Lethems erzählerischem Universum. Chase Insteadman, einst Jugendstar einer legendären 80er-Jahre-Sitcom, die ständig im Fernsehen wiederholt wird, lebt recht gut von seinen Tantiemen und treibt sich in der Partyszene der oberen zehntausend New Yorks herum. Nach eigenen Angaben dient er als „Tischdekoration bei Abendgesellschaften“.

Verlobte im All, Geliebte auf der Erde

Eines Tages begegnet ihm der schielende, heruntergekommene Perkus Tooth, seines Zeichens ehemaliger Musikkritiker und Filmexeget: ein popkultureller Super-Nerd, der Manhattan mit selbstgestalteten Kunstplakaten voll tapeziert. Zu dem Duo gesellt sich noch ein ehemaliger Hausbesetzer, der sich gerade eine Millionärin geangelt hat und als Faktotum des autoritären Bürgermeisters fungiert. Dieses Trio kifft munter vor sich hin, diskutiert über die Meilensteine des Off-Kinos und gerät über die Frage, ob Marlon Brando noch lebt oder schon tot ist, immer wieder in heftigen Streit.

Perkus Tooth nimmt dabei die Rolle eines Hohepriesters der Off-Kultur ein, der in seiner ranzigen Wohnung Hof hält und wie ein Mittelsmann die einzelnen Figuren des Romans zueinander führt. Um das zentrale Trio herum gruppiert Jonathan Lethem einen ganzen Kreis exzentrischer Figuren und inszeniert so die großstädtische Lebenswelt Manhattans als popkulturelle Versuchsanordnung zwischen Partys, Filmdiskussionen und Bettgeschichten. Nur ist das New York in Chronic City ein bisschen anders und verzerrt, wie in einer parallelen Realität. Da gibt es Insteadmans Verlobte, eine Astronautin, die sich im All in einer kaputten Raumstation inmitten eines chinesischen Minenfeldes befindet und Briefe an ihren Geliebten schickt, die in der sogenannten „kriegsfreien Ausgabe“ der New York Times erscheinen. Das Motiv der sterbenden Astronautin im Erdorbit hat sich Lethem bei seinem literarischen Vorbild Philip K. Dick ausgeliehen. Ein Stararchitekt namens Noteless schlägt riesige, fjordartige Löcher als Denkmäler in die Stadt, während ständig ein eigenartiger Rauch über Manhattan hängt, der manchmal den Geruch von Schokolade annimmt. Chase Insteadman hat natürlich auch eine irdische Geliebte, die als Ghostwriterin Biographien schreibt. Dann treibt noch ein entlaufener Tiger sein Unwesen in der Stadt und eine riesige, außer Kontrolle geratene Bohrmaschine macht den Untergrund unsicher und reißt immer wieder Gebäude in die Tiefe.

Der letzte Kultur-Anarchist

Jonathan Lethem benutzt diese bizarren, phantastisch anmutenden Elemente sehr geschickt und erschafft so ein ganz eigenes, in sich geschlossenes Universum, in dem die Akteure immer wieder die Frage nach der Echtheit ihrer Realität stellen. Programmatisch bezieht sich denn auch der Titel des Romans auf eine Marihuana-Sorte namens Chronic, der Lieblingssorte von Perkus Tooth. Chronic City ist wie ein Rausch angelegt, in dem die Hauptpersonen hilflos umhertaumeln, sich kaum zurechtfinden und ständig unter ihrer Paranoia leiden. Laut Perkus Tooth wird Manhattan zum „Ort, der die Replik seiner selbst ist, ein fragiles Simulakrum, voller Lücken und Pannen.“ Ob die Ghostwriterin, der Sitcom-Star oder der ehemalige Hausbesetzer: sie alle erfüllen wie Statisten ihre Rollen in einer undurchsichtigen Scheinwelt. Ihnen fehlen die Ecken und Kanten, die Perkus Tooth mehr als genug hat. Der Erzähler Chase Insteadman konstatiert für sich selbst „ein gemäßigtes Charisma, das niemandem wehtut“. Dagegen wirkt der im Romanverlauf immer mehr verwahrlosende Perkus Tooth wie eine wild gewordene Diva. Schließlich geht er im kalten New Yorker Winter verloren, als seine mietpreisgeschützte Wohnung geräumt wird.

Die große Suche nach New Yorks letztem Kultur-Anarchisten, der der Gentrifizierung zum Opfer gefallen ist, erlebt ein überraschendes, drastisches Finale. Seine Freunde verweisen am Ende als Hommage an ihren Off-Kultur-Guru wie Adepten eines subkulturellen Kultes immer wieder auf die 80er Jahre, als New Yorks Kunst- und Subkulturszene sich noch am Punk orientierte und Perkus Tooth in seiner jugendlichen Blüte stand. In diesem Sinn liest sich Chronic City wie ein Abgesang auf ein altes, längst untergegangenes Manhattan, das dem schönen Schein einer geltungssüchtigen Glitzerwelt zum Opfer gefallen ist.

Chronic CityJonathan Lethem Tropen-Verlag bei Klett-Kotta, 500 S., 24,95

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