Der Mythos des Freibeuters erfreut sich größter Beliebtheit, wie hiesige Wahlergebnisse und Kinoblockbuster bezeugen. Piraten eignen sich blendend als sozialromantische Projektionsfläche. Nicht zuletzt die Verklärung der Seeräuber, die vor dreihundert Jahren durch die Karibik segelten, leistet dem Vorschub. Etwas schwieriger wird es schon, wenn wir über die Piraten sprechen, die mit ihren Schnellbooten seit einigen Jahren den Golf von Aden und die somalische Küste unsicher machen. Doch auch ihnen haftet letztlich der Nimbus einer sozialrevolutionären Romantisierung an. Das zeigt auch Ralph Kleins Essay Moderne Piraten, das sich dieser Thematik aus einer explizit piratenfreundlichen Perspektive nähert. Klein geht mit einem „profunden Misstrauen“ an das Thema heran. Denn die Erklärungen von Politikern und Vertretern der Handelsschifffahrt sind ihm allzu einhellig, wenn es darum geht, Piraten zu verurteilen. Die Seeräuber selbst kommen nicht zu Wort. Vielmehr verkörpern sie aus europäischer Sicht etwas Archaisch-Barbarisches. Diese einheitliche Front erinnert Klein an das „Goldene Zeitalter der Piraterie“ zwischen 1690 und 1730, als miteinander konkurrierende Kolonialherren, ebenfalls selten einmütig, gegen diese Bedrohung der frühkapitalistischen Handelsrouten militärisch zu Felde zogen.
Raketenwerfer an Bord
Ein „Wettrennen zwischen Piraten und dem Rest der Welt“ meinte im Oktober 2011 Jack Lang, ehemaliger französischer Kulturminister und heute „UN-Sonderberater für Rechtsfragen betreffend Seeräuberei vor der Küste Somalias“, ausgemacht zu haben. Die internationale Gemeinschaft fährt derzeit eine ganze Menge auf, um die afrikanischen Piraten mit ihren etwa sechs Meter langen, zumeist mit Yamaha-Außenbordmotoren betriebenen kleinen Nachen, sogenannten Skiffs, zu bekämpfen. Mit kleiner Besatzung schippern diese an der Küste oder auf offener See an die riesigen Handelsschiffe längs heran, um dann enternd mit einer Kalaschnikow oder einem RPG7-Raketenwerfer über der Schulter die bis zu 20 Meter hohen Außenbordwände hochzuklettern. An der Ladung oder am Besitz der Mannschaft haben die somalischen Piraten kein Interesse, es geht ausschließlich um Lösegeld, andernfalls wird ein transnationaler Transportweg blockiert – ein Novum in der Piraterie, wie Ralph Klein betont.
Damit bedrohen die Piraten den reibungslosen Ablauf eines bedeutenden Sektors der globalen Wirtschaft. 80 Prozent des Welthandels laufen über den Ozean, mehr als 22.000 Schiffe – das sind zehn Prozent des globalen Seehandels – durchqueren jährlich den Golf von Aden. Neben der internationalen Mission Atalanta, an der sich auch die Bundesrepublik beteiligt, gibt es weitere Truppenverbände, die einen rechtsstaatlichen Staus quo in dieser mittlerweile reichlich unsicher gewordenen Seeregion wiederherstellen sollen. Mit der „Contact Group on Piracy off the coast of Somalia“, an der über 60 Länder und mehrere supranationale Organisationen wie NATO und EU beteiligt sind, gibt es seit Januar 2009 eine international vernetzte Gegenoffensive, die aber nur mäßig erfolgreich ist.
Schon in der Vergangenheit hatten es die westeuropäischen Staaten gegen afrikanische Seeräuber schwer. Maghrebinische Piraten machten im 19. Jahrhundert den Atlantik unsicher und drangen 1817 sogar in die Elbmündung vor. Ein Jahr später wurde der „Antipiratische Verein“ in Hamburg gegründet, und 1844 versuchte das erste Kriegsschiff der preußischen Marine, die „Amazone“, im Mittelmeer auf Piratenjagd zu gehen – vergebens. Die Gegend des heutigen Somalia wurde antiken Quellen zufolge bereits im 1. Jahrhundert von Piraten unsicher gemacht. 1032 überfallen ostafrikanische Piraten Korfu, und als die europäischen Großmächte gegen die Piraten im „Goldenen Zeitalter“ militärisch vorgehen, fliehen einige Piratenmannschaften aus dem atlantischen und pazifischen Raum und nutzen die ostafrikanische Küste als Rückzugsgebiet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gibt es an der Küste des Golfs von Aden zahlreiche Piratensiedlungen. An Land ist die Strandräuber-Ökonomie weitverbreitet, da es in der strömungsreichen See zahlreiche Schiffbrüche gibt. Der Versuch der Kolonialregierung, zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Cap Guardafui einen Leuchtturm zu bauen, scheitert am Widerstand der Bevölkerung. Bereits 1880 war das Land von Italien, Großbritannien und Frankreich zum Protektorat erklärt worden, nicht zuletzt auch, um der Seeräuber-Problematik Herr zu werden.
79.000 Dollar Jahresverdienst
Schon die ungenauen Schätzungen, wie viele somalische Piraten es gibt, zeigen, wie wenig die zahlreichen Sicherheitsexperten wirklich wissen. Die heute von der somalischen Küste aus operierenden Piratengangs sollen insgesamt 1.500 bis 5.000 Personen umfassen, wobei von einer hohen Fluktuation ausgegangen wird. An die 400 Piraten sollen jährlich neu dazukommen, andere wiederum kehren nach einem oder mehreren Beutezügen zurück in ihr vorheriges Leben. Bis zu 79.000 Dollar soll das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Piraten laut der Unternehmensberatung Geopolicy betragen, bei 500 Dollar liegt das eines normalen Somaliers. Kein Wunder, dass die Piraterie für viele eine lukrative Alternative darstellt. Die Clanzugehörigkeit, in Somalia ein wichtiger sozialer und politischer Faktor, spielt laut Klein für die Piraten eine untergeordnete Rolle. Er sieht in der Piraterie eine vorübergehende Beschäftigung ähnlich dem sozialen Banditentum und den Subsistenzprotesten im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die katastrophale wirtschaftliche Situation des Landes tut da ihr übriges. An der Küste werden die Konsequenzen einer globalisierten Wirtschaft deutlich, das Fischereiwesen Somalias ist durch die internationale Fischfangindustrie in seiner Existenz massiv bedroht.
Weniger bekannt ist, dass sich die Piraten Somalias mittlerweile sogar in Kooperativen organisieren, etwa in dem 400 Kilometer nordöstlich von Mogadischu gelegenen Xharadhere, wo auch Jobs etwa als Koch oder Wachmann angeboten werden. Außerdem, so Klein, werden erfolgreiche Piraten an Land wie Prominente behandelt, da sie oftmals Teile ihrer Einkünfte in soziale Infrastrukturen stecken, von Krankenhäusern über Schulen bis hin zu Generatoren, die eine Stromversorgung gewährleisten. Gleichzeitig gibt es ein Handbuch für angemessene Führung, Geiseln sollen keinesfalls verletzt oder getötet werden. Die Somalier an Land wiederum investieren Ersparnisse in piratische Unternehmungen, nicht selten sind das Gelder früherer Piratenzüge. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete im Dezember 2009 gar von einer 22-Jährigen, die nach der Scheidung als Unterhaltszahlung einen Raketenwerfer von ihrem Ex-Mann erhielt, den sie wiederum der Piratenkooperative gegen eine Rendite zur Verfügung stellte.
Ein Kampf auf tönernen Füßen
Die westlichen Staaten gehen davon aus, dass die Piraterie Somalias von internationalen islamistischen Terrornetzwerken unterstützt wird. Dabei ging die Unterstützung bisher nur während der Herrschaft der fundamentalistischen „Union islamischer Gerichte“ zurück. Die internationale Gemeinschaft setzt indes auf mehr Militär, seit März 2012 sind nach der Londoner Somalia-Konferenz Luftangriffe gegen vermeintliche „Piratencamps“ bis zwei Kilometer ins Landesinnere Somalias zulässig. Dennoch geht es bei der Jagd auf die Seeräuber selten über eine „Catch and Release“-Strategie hinaus, wie Experten betonen, auch wenn derzeit gut Tausend Piraten in insgesamt 21 Staaten in Haft sitzen.
In Hamburg wird seit 2010 gegen zehn Somalier ein strafrechtliches Verfahren geführt, der erste Piraten-Prozess seit 400 Jahren, wenn die Legende stimmt und die Hanseaten Klaus Störtebeker 1401 aburteilten und mit 30 anderen Seeräubern enthaupteten. Der Versuch, in Kenia 2009 einen von der UN autorisierten Gerichtshof gegen Piraten zu installieren, wurde jedoch vom „Kenyan High Court“ für nicht verfassungsgemäß erklärt. Der Kampf der internationalen Gemeinschaft gegen die Piraterie steht auf tönernen Füßen. Derzeit ist eine militärische Eskalation zu beobachten, die Menschenleben gefährdet. Für große Empörung sorgte in Somalia im März 2011 das Manöver des holländischen Kriegschiffes „Tromp“, das, um das Kapern eines Schiffes zu verhindern, zwei Seeräuber tötete und deren Leichen einfach über Bord warf.
Vor zwei Jahren lieferte der Princetoner Literaturwissenschaftler Daniel Heller-Roazen mit seinem Buch Der Feind aller eine viel beachtete rechtsgeschichtliche Aufarbeitung des Themas Piraterie. Seine Kernthese, der Pirat sei ein universeller Feind aller Gesellschaften, mag für Staaten, supranationale Organisationen und Vertreter der globalen Wirtschaft stimmen. Die subkulturelle Begeisterung – vom Fußball-Vereinskult bis zum Namen einer Bundespartei – für den Mythos, dem ein Stück weit auch Ralph Klein in seinem Essay erliegt, spricht eine andere Sprache.
Florian Schmid ist Historiker und hat schon einmal im Freitag über das „Goldenen Zeitalter der Piraterie“ geschrieben
Moderne Piraten Ralph Klein Assoziation A 2012, 132 S., 12 €
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