Die gleiche Freiheit für alle

Wolfgang Ullmann zum Gedächtnis Eine andere Antwort auf die Frage nach der wahren Religion

Die Frage nach der "wahren Religion" war in Europa der ideologische Hintergrund von Kreuzzügen, Ketzerverfolgungen, Inquisition, Bürgerkriegen und gezielt ausgelösten individuellen Gewissensqualen. Deswegen haben schon in der frühen Moderne John Toland und John Locke dem Fanatismus, der in der Frage der wahren Religion angelegt zu sein scheint, die liberale Forderung der Toleranz entgegengehalten. Durch sie sollten religionsideologische Debatten abgewehrt oder doch zumindest eingeklammert und in das nicht zu diskutierbare private Belieben gestellt werden. Der aufgeklärte Mensch ließ sich nicht mehr auf das Terrain theologischer Wahrheitsfragen locken. Noch Karl Marx hat innerhalb der Ersten Arbeiterinternationalen erfolgreich dagegen argumentiert, "theologische Sektionen" zuzulassen - das galt sowohl für den YMCA/CVJM als auch für Bakunins Antrag auf Zulassung einer "atheistischen Sektion".Die Arbeiterbewegung sollte sich nicht über theologische Wahrheitsfragen zerstreiten. In der weiteren Geschichte hat sich die radikalliberale These weit verbreitet, religiöse Antworten und überhaupt Antworten auf die Frage nach "der Wahrheit" insgesamt für falsch oder, schlimmer noch, für sinnlos zu erklären.

Wolfgang Ullmann hat mit der Herausforderung dagegen gehalten, allein die Theologie könne die Frage nach der wahren Religion beantworten - und es sei der Grundmangel aller Philosophie, dass sie das aus sich heraus nicht könne. Diese Herausforderung trifft ein wirkliches Problem - gerade dann, wenn wir sie als alles andere als einen Rückfall hinter die europäische Aufklärung begreifen. Und dieses wirkliche Problem hat, wenn wir zugestehen, dass die Philosophie keine "letzten Wahrheiten" verkünden kann, zwei Seiten: Zum einen steht und fällt mit der Frage nach "der Wahrheit" der existenzielle Ernst menschlichen Denkens; zum anderen füllt sich das Vakuum der Wahrheitsfrage in der Tendenz immer wieder mit allerlei Ersatzstoffen, deren Minderwertigkeit kaum zu bestreiten ist. Historisch ist es in einem Doppel aufgetreten: in den Gestalten des Positivismus und des Nihilismus, zwei philosophischen Strömungen von geringer denkerischer Substanz. Diese sind aber in der Epoche des europäischen Imperialismus höchst wirksam geworden, aus deren Vorherrschaft sich auch das 20. Jahrhundert nicht mehr wirklich befreien konnte. Der Positivismus wurde von Auguste Comte als eine explizit anti-revolutionäre Wissenschaftsreligion begründet und von subtileren Denkern wie John Stuart Mill, Richard Avenarius und Ernst Mach ins Methodologische gewendet, ohne dabei den impliziten Machtanspruch für die Wissenschaftler aufzugeben: er lebte von und mit der Behauptung, die Wissenschaften würden hinreichende Antworten auf alle menschlichen Fragen geben. Der Nihilismus - ursprünglich eine Art von Rezensentenscherz über eine völlig nichtssagende und nichtswürdige Bühnenaufführung - schloss daraus, dass es in der modernen Welt keinen Gott und keine höheren Wesen mehr gebe, dass es deswegen auch gar keine Antworten auf die wichtigen Fragen der Menschen mehr geben könnte.

Genauer betrachtet, beruhten beide Positionen auf einem Irrtum darüber, was es bedeuten kann, Antworten auf wichtige Fragen zu geben. Die Positivisten waren völlig zu Recht davon überzeugt, dass Antworten auf derartige Fragen ohne Rückgriff auf höhere Wesen oder höhere Wahrheiten entwickelt werden mussten. Sie machten allerdings den Fehler zu glauben, die Antwort auf etwa die Frage, "wie können wir als Menschen ein gelungenes Leben führen", hätte dieselbe logische Struktur wie die Frage nach der Zahl der menschlichen Chromosomen, würde also eines Tages von "der Wissenschaft entdeckt". Die Nihilisten dagegen waren zu Recht davon überzeugt, dass auf die großen Fragen andere Arten von Antworten erforderlich waren. Allerdings hielten sie ganz konservativ daran fest, dass solche Antworten nur durch eine Offenbarung höherer Mächte - also niemals - zu Stande kommen könnten.

Der Gedanke dagegen, dass die Menschen sich selber Antworten auf diese Fragen geben könnten, ohne dabei auf wissenschaftliche Entdeckungen oder höhere Offenbarungen zurückzugreifen, wurde zunächst nur in metaphysischer Verzerrung gefasst (das war die große Leistung des deutschen Idealismus, wie sie dann Ludwig Feuerbach auf den Begriff gebracht hat).

Die traditionelle Philosophie hat immer an dem Gedanken festgehalten, auf die wichtigen Fragen der Menschheit könne es Antworten mit gegenständlicher Wahrheit geben - von Platons "Idee des Guten" bis zu Kants Fassungen des "kategorischem Imperativs". Eine radikale Philosophie aber kann sich von dieser Voraussetzung verabschieden, ohne etwas dabei zu verlieren. Denn die logische Struktur der Antworten kann relativ einfach ganz anders beschrieben werden: Eine Antwort auf die alte Frage "was [sollen wir] tun?", die sich weder auf die Offenbarung höherer Wesen beruft, noch auf wissenschaftliche Entdeckungen, kann sich nur darauf berufen, was die Menschen wollen, und zwar alle gemeinsam und jede(r) für sich. Wobei nicht jeder beliebige Wunsch, nicht jeder beliebige Entschluss gemeint sein kann, der Menschen durch die Köpfe geht und in dem sie vielleicht übereinstimmen, sondern es muss sich um ein wohl überlegtes, gut informiertes, oder, wie wir um 1960 gesagt hätten, ein "ausdiskutiertes" Wollen handeln.

Genau an diesem Punkt der Überlegung setzte dann aber eine metaphysische Verzerrung ein: Aus dem "vernünftigen Willen", mit dem wir ein derartiges Wollen durchaus umschreiben könnten, wurde unter der Hand ein Wille, welcher der Vernunft entspricht - wobei diese Entsprechung als ein Verhältnis zu einer vorgegebenen Substanz gedeutet wurde. Über dieses Verhältnis Bescheid zu wissen, legitimierte dann dazu, anderen Menschen zu sagen, was sie "vernünftigerweise" wollen sollten. Damit wird aber das "ursprüngliche Palaver der Menschheit", das immer schon im Gange ist und niemals ein Ende finden wird, wenn es auch immer wieder vorläufige Ergebnisse erbringt, in selbstzerstörerischer Weise eingeengt: Die Unwissenden werden ebenso von ihm ausgeschlossen wie die Unwilligen - anstatt die Herausforderung anzunehmen, gerade diese aufzuklären und zu überzeugen.

Das antimetaphysische "Jedermensch-Prinzip" der radikalen Philosophie fordert, dass jede(r), wie sie/er geht und steht, in die Debatte einzubeziehen ist. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass alles erlaubt ist. "Ich will andere kommandieren, ausbeuten, unterdrücken, schädigen oder rücksichtslos behandeln" hat keine Chancen, von allen anderen als ein akzeptables Wollen akzeptiert zu werden. Auch der Wunsch, "noch einmal aus dem Vollen zu leben", ohne Rücksicht auf künftige Menschen, ist überlegterweise nicht akzeptabel. Denn mit welchen Gründen soll das den Betroffenen zugemutet werden - deren Stimme doch gleiches Gewicht haben muss wie meine/unsere eigene, wenn sie dieses Palaver nicht verlassen oder verweigern sollen?

Diese für das Palaver der Menschheit immer schon konstituierende Forderung nach gleicher Freiheit aller ergibt damit bereits, bevor wir selber eine Antwort auf derartige Fragen formulieren können, eine Antwort auf die Frage nach "wahrer" und "falscher" Religion: Denn jedenfalls sind alle Religionen nach diesem Kriterium falsch, die dieses Prinzip verletzen - also etwa die Religionen des Mammon, die den Zugang zum Palaver der Menschheit nach der willingness to pay (und damit letztlich nach der zugrundeliegenden Zahlungsfähigkeit in Geld) bemessen. Aber auch alle Religionen des Baal, welche auf Sippe, Nation oder "Rasse" als Zugangskriterien rekurrieren, und auch alle pharisäischen Religionen der blinden Selbstgefälligkeit, deren Gläubige sich dafür bedanken, dass sie nicht so schlecht sind wie alle anderen. Für die hochkulturellen Religionen wie das orientalisch-okzidentalische Tripel von Christentum, Islam und Judaismus oder das asiatische von Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus oder Shintoismus, aber auch für den Atheismus (denken wir nur etwa an die Rolle des Sozialdarwinismus), lässt sich das Kriterium ebenfalls anwenden. Es unterscheidet sie nach falschen Formen, die auf der Propagierung der Herrschaft von Menschen über Menschen beruhen, und solchen (zumeist minoritären), die die Anerkennung der gleichen Freiheit aller Menschen zur Grundlage haben. Die historische Verfilzung dieser falschen Religionen mit Herrschaftsstrukturen und Herrschaftsinteressen hat immer wieder zu einer Kriminalgeschichte von Religionen geführt - so wie der enge Zusammenhang der wahren Religionen mit Befreiungskämpfen diese zum unabgegoltenen Erbe der Menschheitsgeschichte gehören lässt.

Wir können diesen sehr einfachen Gedankengang noch um einen Schritt vertiefen, ohne übermäßig kompliziert zu werden: Wenn es denn richtig ist, dass die Wahrheit von Antworten auf die genannten wichtigen Fragen sich jedenfalls dadurch verwirklicht, dass sie von Menschen in voller Überzeugung angenommen werden, dann können wir argumentieren, dass allein im Rahmen der von uns als "wahr" ausgezeichneten Religionen - den "wahren" Atheismus wiederum hinzugerechnet - überhaupt die Möglichkeit für derartige Wahrheitsereignisse besteht. Unter irgend einer Art von Zwang gibt es weder wirkliche Einsicht, noch ein wirksames Bekenntnis dazu. Das wissen die kritischen AtheistInnen ebenso wie die BefreiungstheologInnen unterschiedlicher Konfession.

Manche mögen jetzt einwenden, dass es aber bei der Frage nach der wahren Religion gerade darum gehe, welche besondere Wahrheit sich für die einzelnen Subjekte in dieser Weise ereignet. Dazu kann ich nur sagen, dass diese sich ereignenden Wahrheiten alle wahr sind, wenn sie sich unter den von mir genannten Bedingungen wahrer Religion ereignen - und dass es auch keinen Grund gibt, zwischen ihnen zu wählen. JedeR muss sich selbst prüfen, welches seine Wahrheitsereignisse sind, und diesen Wahrheiten gemäß leben - unter Anerkennung der Wahrheitsereignisse der anderen. Konflikte zwischen derart erlebten Wahrheitsereignissen lassen sich immer auf Abweichungen vom vorgeschlagenen Kriterium der wahren Religion zurückführen - das heißt auf den Versuch, anderen andere Wahrheitsereignisse aufzudrängen als die von ihnen wirklich Erlebten.

Ein gewichtigerer Einwand kommt von den VertreterInnen des anything goes, die in Wirklichkeit zumeist nicht den Anarchismus, sondern die eigenen Vorteile im Status quo vertreten: Warum sollen wir in vernünftiger Weise wollen und uns ins Palaver der Menschheit einbringen, anstatt einfach souverän das zu tun, que bon nous semble, was wir ganz willkürlich zu tun wünschen. Ihnen ist zu sagen, dass sie das selbstverständlich tun können - aber dann auch mit den Konsequenzen leben müssen: Denn sie erklären sich dadurch in letzter Konsequenz zu Feinden der Menschheit. Oder, befreiungstheologisch formuliert, sie begehen die einzige Sünde, für die es keine Vergebung geben kann - die Sünde wider den Heiligen Geist. Mit einer weniger heftigen philosophischen Kategorie: Sie stellen sich außerhalb der gemeinsamen menschlichen Vernunft. Das können sie tun, aber dafür können sie nicht auf die Zustimmung der anderen Menschen hoffen. Alle anderen Menschen können vielmehr ohne Frage darauf bestehen, dass vertrauensvoller Umgang mit ihnen auf diejenigen beschränkt bleibt, welche sich zu einem "vernünftigen Wollen" verpflichten: das heißt im Sinne der hier vorgetragenen Bestimmungen, sich zu einer "wahren Religion" bekennen, und sei es die eines "wahren Atheismus".


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Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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