Religion als Ethik?

Kulturkampf Die Initiative "Pro Reli" irrt. Der Staat wird nicht in der Lage sein, den Kirchen ihre verloren gegangene Bedeutung in der Gesellschaft wieder zu bringen

Das Volksbegehren der Initiative "Pro Reli" operiert mit einer ganz vertrackten Dialektik: Im Namen der Wahlfreiheit soll Religionsunterricht zum schulischen Pflichtfach gemacht werden - wenn auch mit der Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen religiösen Angeboten und dem staatlich verantworteten Ethikunterricht. Dennoch haben die Initiatoren Erfolg gehabt. Sie haben die notwendigen Stimmen gesammelt, dass es nun in in der Hauptstadt zu einem Volksentscheid kommt.

Die Verpflichtung am Religionsunterricht teilzunehmen gibt es in Berlin seit dem Schulgesetz von 1948 nicht mehr, das dann vom Grundgesetz - in dessen so genannter "Bremer Klausel" - und 1950 auch von der Berliner Landesverfassung sanktioniert worden ist: Die Teilnahme am Religionsunterricht, den die Kirchen mit staatlicher Finanzierung anbieten, ist in Berlin freiwillig.

Zugleich wird gegen ein neu eingeführtes schulisches Pflichtfach, Ethik in der Sekundarstufe I, unter Berufung auf die Religionsfreiheit die Einführung einer Abwahlmöglichkeit gefordert. Es soll also eine staatliche Verpflichtung auf Religionsunterricht geben und zugleich soll der Staat darauf verzichten, alle Schulkinder auf den von staatlichen Lehrern erteilten Ethikunterricht zu verpflichten.

Dieses hoch dialektische Projekt tritt unter dem Motto "Pro Reli" auf - unterstellt also den GegnerInnen‚ gegen die Religion zu sein. Vertreter einer Religiosität und Kirchlichkeit, die in der modernen Trennung von Kirche und Staat auch eine Befreiung sehen und Ethik nicht als eine immer nur religiös zu fundierende Haltung begreifen, haben sich demgegenüber in einer Initiative "Christen für Ethik" zusammengeschlossen - was immerhin etwas genauer benennt, worum es faktisch geht: Um die Durchsetzung des Status eines Wahlpflichtfaches für weltanschaulichen Bekenntnisunterricht, der damit als ordentliches Schulfach an die Stelle des staatlich eingeführten Ethikunterrichts treten kann.

In Berlin kommt es nun zu einem Volksentscheid, der für die ganze Republik das Verhältnis von Staat und Kirche neu definieren wird: Im Falle einer Ablehnung dieses Vorhabens im Sinne einer bundesweit wirkenden Bestätigung der Grundintention des bisherigen Berliner Modells der Gleichbehandlung der Religionen und Weltanschauungen. Im Falle einer Annahme im Sinne einer Bestätigung und Konkretisierung des neuen Anspruchs (vor allem) der protestantischen Kirche auf eine staatliche Sanktionierung ihrer gesellschaftlichen Stellung.

Es geht also um einen umgekehrten Kulturkampf: Nachdem sich der wilhelminische Staat jedenfalls grundsätzlich von kirchlicher Bevormundung befreit hatte, soll jetzt der demokratische Staat wieder ausdrücklich zugestehen, dass er von religiösen Voraussetzungen lebt, die allein die Kirchen schaffen können.

Die FürsprecherInnen der Initiative "ProReli" verlangen nach staatlich durchgesetzter Verbindlichkeit in ihrem Sinne. In einer Situation, in der - auch schon vor der Einführung des Ethikunterrichtes - die Zahl der Schülerinnen beständig abnimmt, die am protestantischen Religionsunterricht teilnehmen, wollen sie das Berliner Modell des freiwilligen Religions- und Weltanschauungsunterricht abschaffen und das in der übrigen Republik bestehende Modell des staatlicherseits verbindlich gemachten Religions - oder Weltanschauungsunterrichts auch in Berlin (wieder)einführen.

Das hat seine rein rechnerisch begreifbare "unterrichtstechnische" Rationalität: Weil mit dem Wahlpflichtfachmodell die Freiheit wegfiele, einfach unterrichtsfrei zu nehmen, würde die insgesamt teilnehmende SchülerInnenzahl größer. Sicherlich auch die Zahl der TeilnehmerInnen am protestantischen Religionsunterricht. Außerdem würde bei dem Wahlpflichtfachmodell auch dem Religionslehrer die volle Gewalt des Lehrers eines "ordentlichen Schulfaches" zu Gebote stehen, das "versetzungsrelevant" wäre.

Verbände wie die Humanistische Union haben mit dem ersten Teil dieser Berechnung kein besonderes Problem: Sie könnten sich vielmehr ausrechnen, dass die Anzahl der SchülerInnen, die an der von ihnen angebotenen "Humanistischen Lebenskunde" teilnehmen, noch erheblich stärker steigen würde - wie sie das die ganzen letzten Jahre hindurch kontinuierlich getan hat, auch nach der Einführung des verbindlichen Ethikunterrichts. Allerdings könnten sie es nicht begrüßen, dass die besondere Beziehung zwischen LebenskundelehrerInnen und ihren freiwilligen SchülerInnen durch ein "ordentliches Zwangsverhältnis" ersetzt würde.

Dass "Pro Reli" das Vorhaben, alle Berliner SchülerInnen auf die Teilnahme entweder am Ethikunterricht oder an einem religiös oder weltanschaulich verantworteten Unterricht als "ordentliches Schulfach" zu verpflichten, mit der Parole "Freiheit" und "Wahlfreiheit" bewirbt, ist eine Paradoxie erster Klasse. Die Initiatoren behaupten, sie würden sich mit dem Projekt gegen "staatliche Bevormundung" wehren. Das zu verstehen, setzt den Nachvollzug einer erstaunlichen Auffassung voraus: Nämlich dass ethische Haltungen sich nur aus Religion begründen lassen und der Staat daher alle ethischen Fragen den organisierten Religionen zu überlassen hätte. Jede staatliche Wertevermittlung wird damit unter den Verdacht einer tendenziell totalitären Einmischung der Politik in eine religiös-weltanschauliche "Intimsphäre" gestellt.

Diese Argumentation geht von einer systematischen Prämisse aus, die alle nichtreligiösen Menschen beleidigt, indem sie ihnen die Fähigkeit abspricht, eine "wirkliche Ethik" zu haben. Sachlich gibt es dafür kein Argument - außer dem theologischen Vorurteil, dass alle Menschen als solche "böse" seien (Erbsünde).

Auch historisch ist das ziemlich absurd. Denn gewöhnlich wurden Ethiken und Moralvorstellungen gerade dort und dann entwickelt, wenn die "selbstverständliche" Verbindlichkeit gemeinschaftlicher Religionsvorstellungen zu schwinden begannen oder wenn sich aufgrund von Kulturbegegnungen oder religiösen Spaltungen die Aufgabe stellte, eine Ethik zu finden, welche über verschiedene Religionen und Weltanschauungen hinweg als eine verbindliche Grundlage des Zusammenlebens funktionieren könnte.

Außerdem liegt dem ein verdrehtes Verständnis der Prozesse der Entkirchlichung zugrunde, wie sie sich seit der europäischen Aufklärung auf unterschiedlichen Pfaden vollzogen haben, und ein völliges Unverständnis für die in fast ganz Europa bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts durchgesetzten Trennung von Kirche und Staat - als einer Bedingung von Toleranz und gemeinsamer Verbindlichkeit ethischer Prinzipien.

Auch wer den modernen Staat grundsätzlich als Herrschaftsstruktur kritisiert, selbst noch in seinen repräsentativ-demokratischen Formen, wird daher nicht davon zu überzeugen sein, dass der Anspruch auf eine gemeinsam von allen Menschen zu erarbeitenden Grundlage des Zusammenlebens zugunsten eines Ethikmonopols der Kirchen (und der gleich zu behandelnden organisierten Weltanschauungen) aufgegeben werden sollte. Der engagierte Lebenskundeunterricht der humanistischen Lehrerinnen ist selbstverständlich auch kein auf Allgemeinverbindlichkeit angelegter Ethikunterricht. Er setzt vielmehr eine bestimmte weltliche Lebensauffassung voraus, die ihrerseits argumentativ und tolerant vertreten wird und für deren staatliche Propagierung sie keineswegs eintreten.

Was"ProReli" will, läuft in der Konsequenz auf das Projekt einer religiösen "Versäulung" der deutschen Gesellschaft hinaus, dem gemäß sich jede und jeder erst einmal einer bestimmten Religion zuordnen muss. Erst dann kann eine Verständigung über gemeinsame Grundlagen des Zusammenlebens, gleichsam im exklusiven Dialog der Religiösen, ermöglicht werden.

Ein derartiges Projekt wird heute keine Integration der deutschen oder anderer europäischer Gesellschaften mehr leisten können. Denn deren Mehrheit orientiert sich schon lange - trotz formell fortbestehender kirchlicher Zugehörigkeiten - in ihrem Leben an säkularen Modellen der Lebensführung. So wie sie den Gegenstand der rationalen Auseinandersetzung über ethische Fragen bilden. Was übrigens gut mit der Anerkennung religiöser und weltanschaulicher Vielfalt vereinbar ist. Ein staatlicher Ethikunterricht ist in diesen Gesellschaften daher nicht als Bevormundung zu begreifen. Er kann hier vielmehr - nicht anders als der staatliche Unterricht in Politik - einen wichtigen und auch in der gebotenen Pluralität konstruktiven Beitrag zur Qualifizierung der nötigen Debatten leisten.

Offenbar haben gerade maßgebliche Teile der protestantischen Kirchenführung ein Problem damit, dass ihre Erwartungen enttäuscht worden sind, nach dem Zusammenbruch der DDR unter der dortigen Bevölkerung kirchlichen Einfluss zurück zu gewinnen.

Aufgrund der historisch falschen Diagnose, der kirchliche Einflussverlust sei ein Effekt des "Staatsatheismus" boten sich derartige Erwartungen anscheinend an. Dass jetzt ein protestantischer Kulturkampf eröffnet wird, um mithilfe staatlicher Verbindlichkeiten doch wieder den kirchlichen Einfluss auszubauen (oder zumindest seinen weiteren Rückgang einzudämmen), beruht auf dem mangelnden Begreifen, dass auch der bundesdeutsche demokratische Staat keineswegs dazu in der Lage ist, dauerhaft die Bedeutung der Kirchen in der Gesellschaft zu erhöhen.

Anstatt sich auf die Rolle der Kirchen als gleichberechtigten, aber nicht mehr vorherrschenden kulturellen Gemeinschaften einzulassen, wie sie die modernen europäischen Gesellschaften für sie bereit halten, versuchen diese kirchlichen Kulturkämpfer längst vergangene Verhältnisse wiederherzustellen, in denen die Kirchen über die Sittlichkeit konkreter Gemeinschaften gewacht haben. Der produktive Beitrag religiöser und kirchlicher Perspektiven zu einer ebenso tolerant wie ernsthaft um die Entwicklung der gemeinsamen Kultur ringenden gesellschaftlichen Vielfalt kann auf diese Weise jedenfalls nicht zur Geltung kommen. Das haben nur die "Christen für Ethik" begriffen.

Frieder Otto Wolf, geboren 1943 in Kiel, lebt als Philosoph in Berlin. Von 1994 bis 1999 war er Europaparlamentarier der Grünen. Seit 1993 ist er Koordinator des Thematischen Netzwerkes "Sustainability Strategy" an der Freien Universität Berlin. Wolf ist stellvertretender Landesvorsitzender de Humanistischen Union, die für gut 47.000 Berliner Schülerinnen einen Unterricht in "Humanistischer Lebenskunde" erteilt.

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Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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