Im Freitag 12 (12. 3. 2004) hatte die Baseler Philosophieprofessorin Angelika Krebs zwei Konzepte von Gerechtigkeit vorgestellt: Einen "Egalitarismus", der von dem Prinzip ausgeht, alle Menschen sollten gleich viel (Chancen) erhalten. Das Bild einer möglichst ausgeglichenen Balkenwaage veranschaulichte diese Auffassung. Das zweite Konzept wäre das der "humanistischen Gerechtigkeit", die nicht Gleichheit, sondern "genug" für alle fordert, einen "Sockel" an Grundgütern, die allen zustehen. Hier würde nicht die Balkenwaage als Bild dienen, sondern ein Zeiger, der angibt, ob die Grundversorgung der einzelnen "im grünen Bereich" liegt. Mit dem provokanten Satz "Der Egalitarismus überstrapaziert die Gerechtigkeit. Wir sollten ihn uns abschminken" plädierte Krebs - auch im Hinblick auf die Gerechtigkeitsdebatte in der SPD - für einen "Humanismus" der nicht von (Chancen-)Gleichheit ausgeht, sondern von einer Versorgung mit Grundgütern als "Sockel" für persönliche Entfaltung. "Gefährlich" findet der Berliner Philosoph Frieder Otto Wolf eine solche Position und formuliert im Folgenden seine Einwände.
Menschen sind nicht gleich. Sie wollen es auch nicht sein. Angelika Krebs argumentiert mit Recht gegen ein allzu einfaches Gleichheitsdenken, wie es schon Norberto Bobbio kritisiert hat und erinnert an die elementare Einsicht, dass wir weder "gleich" sein wollen noch andere Menschen gleich behandeln, weil sie uns eben auch unterschiedlich nahe stehen.
Diese einfachen moralischen Intuitionen lassen sich schwer bestreiten. Politische Philosophien, die sie nicht zumindest aufnehmen, haben es schwer, uns zu überzeugen. Aber es gilt eben auch: Menschen widersetzen sich immer wieder jeder Art von Ungleichheit, die für sie Unterwerfung unter andere oder Diskriminierung bei der Anwendung von Regeln bedeutet. Oder sie entziehen sich ihnen, zumindest innerlich. Und der Vorwurf, etwas sei ungerecht, klagt ein Minimalniveau ein, das keine gesellschaftliche Ordnung unterschreiten darf, der wir zustimmen können sollen. Die diesen Praktiken zugrundeliegenden moralischen Intuitionen sind nicht weniger elementar und unbestreitbar wie die oben erwähnten des Widerstrebens gegen Gleichheit. Moralische Intuitionen nämlich können mit demselben Recht durchaus konträre Inhalte behaupten.
Intuitionen sind schwache Argumente
Beispielsweise ist es eine schwer bestreitbare moralische Intuition, dass diejenigen, die seit den Anfängen der industriellen Revolution im 17. und 18. Jahrhundert unwidersprochen die Erdatmosphäre als "Senke" für ihre CO2-Emissionen genutzt haben, inzwischen denken, "wohl erworbene" Rechte an dieser Nutzung zu besitzen, so dass die Industrieunternehmen der gegenwärtigen reichen Länder des Nordwestens in einer künftigen Emissionsregulierung entsprechend viele Emissionsrechte zugeteilt bekommen müssten (Prinzip des "grandfathering"). Dasselbe gilt für die gerade wieder aktuell werdende, ebenfalls rein als solche schwer bestreitbare moralische Intuition, dass der Käufer der Nutzung einer menschlichen Arbeitskraft diese Nutzung so intensiv vornehmen dürfe, wie er kann, und sie so lange ausdehnt, wie er es braucht.
Es ist aber auch eine zumindest genau so eindeutig überzeugende moralische Intuition, dass die Erdatmosphäre - wie die gesamte Biosphäre als "Heimstatt des Lebens" (Toynbee) - ein "gemeinsames Erbe der Menschheit" bildet, auf das zunächst jeder Mensch einen gleichen Nutzungsanspruch hat, den er/sie allerdings nicht durch private Aneignung aus dieser "globalen Allmende" herauslösen kann. Oder dass der/die Verkäufer/in menschlicher Arbeitskraft die Nutzung des Arbeitsvermögens an die Bedingung gebunden sieht, diese Arbeitskraft zu erhalten, das heißt an ein Anrecht auf genügend freie Zeit zum Leben. Entsprechende Wert-Konflikte sind bekanntlich im Verhältnis von wechselseitigem Hingabewunsch und Ausnutzungsverbot in Liebesverhältnissen zu finden.
Politisches Philosophieren wird durch derartige Gegensätze besonders herausgefordert: Es kann herausfinden, welche Einigungs- und Kompromissmöglichkeiten sich finden lassen, aber auch in welchen Formen grundlegende und nicht vermittelbaren Konflikte auf eine möglichst wenig destruktive Weise ausgetragen werden können. Das schließt immer auch die Frage nach strukturellen Veränderungen ein: Wie können die imperialistischen Abhängigkeitsverhältnisse in der globalen Arbeitsteilung, die kapitalistisch abhängige Arbeit oder die patriarchalische Verknüpfung von Liebesverhältnissen mit geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung als solche aufgehoben werden, um - wie traditionell gesagt wurde - antagonistische in nicht-antagonistische Konflikte zu transformieren?
Die Aufgabe politischer Philosophie
Ein realitätsbezogenes politisches Philosophieren wird dazu zweckmäßigerweise bekannte Konfliktverläufe - den historischen Kampf um den Normalarbeitstag oder die noch laufenden Kämpfe um die Vermeidung einer globalen Klimakatastrophe oder um einen emanzipativen Umbau der Geschlechterverhältnisse - in Erinnerung rufen und kritisch analysieren. Bedenkend, was Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie sagte: "Wo Recht wider Recht steht, entscheidet die Gewalt!", setzt politische Philosophie nach der Konstatierung derartiger "antagonistischer" Konflikte ein, für die sich keine begründbar richtige Lösung finden lässt: Was bedeutet es für den Umgang mit den Konflikten, wenn wir anerkennen müssen, dass in ihnen Recht wider Recht steht? Und was heißt es, dass es in ihnen erstens überhaupt "zu einer Entscheidung kommen" muss und dass diese Entscheidung auf "Gewalt" beruht? Damit wird eine politische Philosophie möglich, die sich nicht damit begnügt, breit geteilte oder vermittelbare moralische Intuitionen aufzugreifen und argumentativ so zu arrangieren, dass dem einen oder dem anderen Anspruch "philosophisch" Recht gegeben werden kann. Vielmehr muss die politische Philosophie im Ausgang von derartigen moralischen Intuitionen bestehende gesellschaftliche Konflikte rekonstruieren und strukturelle beziehungsweise prozedurale Vorschläge zu deren Bewältigung entwickeln. Solche Vorschläge sollten eine wirkliche Austragung und Lösung auch grundlegender Konflikte möglich machen, ohne dass dadurch die Grundlagen menschlicher Kulturentwicklung oder gar der Biosphäre mit Zerstörung bedroht würden.
Die Frage der Herrschaft stellen!
Im historischen Marxismus und in dem von Angelika Krebs angesprochenen "Mainstream der politischen Philosophie" seit John Stuart Mill sind diese Fragen politischen Philosophierens nicht gestellt worden. Das Ergebnis ist einerseits ein problematischer "Militantismus", für den die Gewaltsamkeit einer Praxis geradezu zu einem Kriterium ihrer Authentizität wurde, und andererseits eine naive Einäugigkeit, für die alle gegenläufigen Interessenperspektiven als irrational gelten mussten. Diese Fragen werden von Angelika Krebs nicht gestellt, weil sie sich auf eine (in der SPD in der Tat verkürzt geführte) laufende Debatte einlässt, die gesellschaftliche Globalität im Gegensatz zu sozialer Solidarität diskutiert: Im Unterschied zu Thomas Heinrichs, der sich in seinem Buch Freiheit und Gerechtigkeit (2002) ebenfalls auf die intuitiv engen Grenzen des Gerechtigkeitsdiskurses und eines naiven Egalitarismus bezieht und dagegen seinerseits eine politische Philosophie des "Humanismus" als umfassendere Ergänzung entwirft, argumentiert Angelika Krebs unter Hinnahme entscheidender blinder Flecken des seit Rawls vorherrschenden Gerechtigkeitsdiskurses und will ihn nur durch eine Begrenzung und Ergänzung korrigieren. Ihr "Humanismus´" bleibt ein gutwilliger Zusatz, der die hinter den Gerechtigkeitsdiskursen steckende Frage nach der Herrschaft nicht stellt. Sie erinnert durchaus zu recht gegenüber der "Balkenwaage" eines mechanischen Egalitarismus, der die differenten Kulturen und Lebensentwürfe der Menschen ignoriert, daran, dass es etwa auch Federwaagen gibt, durch die wir in absoluten Größen messen und etwa "Minimalstandards universaler Gerechtigkeit" zur Anwendung bringen.
Es gibt aber auch noch (seit den alten Ägyptern) Laufgewichtswaagen, bei denen der zentrale Gesichtspunkt die Proportionalität von Lastarm und Last ist, wie er die traditionellen Gerechtigkeitstheorien seit Aristoteles geprägt hat - und heute Ansprüche auf Schuldenerlass oder Reichtumsteilung begründen könnte. Vor allem aber gibt es die treffende Erzählung vom "Schwert des Brennus": Der siegreiche Gallierkönig Brennus hat einfach dadurch den Tribut der besiegten Römer erhöht, dass er sein Schwert in die Waagschale mit dem vereinbarten Gewichten gehalten hat, bis diese in seinen Augen genug Gold und Silber nachgelegt hatten. Dies gilt für alle Arten von Waagen, für alle Arten von Gerechtigkeitserwägungen: Die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, wie sie durch Vermarktlichung keineswegs abgebaut, sondern verstärkt worden sind, machen es den in unterschiedlichen Verhältnissen - Klassenverhältnissen, Geschlechterverhältnissen und Weltsystemverhältnissen - Beherrschten faktisch unmöglich, ihre "gleiche Freiheit" einzuklagen und an der Gestaltung des "gemeinsamen Hauses der Menschheit" mit gleichen Rechten mitzuwirken. "Humane Inklusion" ist aber ohne diese "gleiche Freiheit" aller Menschen nicht zu haben. Auch wenn die Durchsetzung humaner Minima für alle immer ein wichtiger erster Schritt sein kann, darf das nicht bedeuten, dass politische Philosophie stillschweigend Verhältnisse von Herrschaft, Unterwerfung und Abhängigkeit für legitim oder auch nur für vernünftigerweise hinnehmbar erklärt.
Politisches Philosophieren muss mehr sein als eine angewandte Spezialdisziplin "der Philosophie". Als radikales politisches Denken steht es immer vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits zu zeigen, warum wir uns - als Menschen, als politische Subjekte - alternativlos darauf einlassen müssen, uns zu den bestehenden Verhältnissen praktisch politisch zu verhalten. Zumindest also begreiflich zu machen, dass eine aufs Äußerste zugespitzte kritische Haltung - "es gibt kein wahres Leben im Falschen" (Adorno) - sich vernünftigerweise nicht als Weltflucht äußern darf, sondern unermüdlich danach suchen muss, was sich tun lässt, um selbst unter verzweifelten Umständen politisch handlungsfähig zu werden. Andererseits aber auch die Gegensätzlichkeit unserer moralischen Intuitionen konsequent ernst zu nehmen, um gerade daraus gemeinsame politische Handlungsorientierungen zu gewinnen.
Frieder Otto Wolf lehrt Philosophie an der Freien Universität Berlin. Jüngste Veröffentlichungen: Radikale Philosophie, Münster 2002; Humanismus vor der westeuropäischen Neuzeit, Berlin 2003; Die Tätigkeit der PhilosophInnen, (Mitherausgeber), Münster 2003; Arbeit in der Neuen Zeit (Mitherausgeber), Münster 2004.
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