Diesmal ließen sich die so genannten Modernisierungsverlierer nicht in die resignative Wahlenthaltung treiben. Mit dem Stimmabgabe für die neue Linke war es am 18. September möglich, gegen Schwarz-Gelb zu stimmen, ohne für die Agenda 2010 votieren zu müssen. Damit ist ein Anfang gemacht, die Spirale eines sich immer weiter verschärfenden neoliberalen Kurses zu durchbrechen. Jetzt könnte eine politische Auseinandersetzung beginnen, die Perspektiven für eine demokratische Gesellschaftspolitik eröffnet. Anstatt auf den Köhlerglauben zu setzen, irgendwann werde der Markt schon alles richten, könnte öffentlich der Frage nachgegangen werden, wie die seit 1989 entfesselte kapitalistische Produktionsweise strategisch zurückgedrä
28;ngt werden kann - auch wenn derzeit noch keine politische Alternative greifbar ist. Die Linkspartei ist erst dabei, sich als politische Kraft zu finden. Immerhin hat sie eindrucksvoll bestätigen können, dass Schwarz-Gelb keine eigene Mehrheit hat, sobald das gesamte Spektrum der Linken in die Wahlen eingreift.Ein paar offene Fragen muss sie sich aber gefallen lassen: Wo sind in der neuen Fraktion der Linkspartei die Vertreterinnen der seit den siebziger Jahren aufgebauten sozialen Sensibilität in Geschlechterfragen? Was für Perspektiven eines ökologischen Umbaus kann sie heute vorlegen, welche ökonomischen Perspektiven jenseits einer unmöglichen Rückkehr zu den Klassenkompromissen der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit hat sie anzubieten? Wo steht sie in der Aufarbeitung der durchaus traumatischen Geschichte der DDR? In diesen und anderen Fragen gibt es bei PDS und WASG Ansätze, aber noch keine überzeugenden Antworten.Wäre eine Große Koalition nicht schon so gut wie verabredet und die politische Debatte nicht so verfahren, könnte jetzt eine neue Variante ins Spiel gebracht werden. Vorausgesetzt, SPD und Bündnisgrüne würden sich, bezogen auf ihre Schröder-Müntefering- oder Fischer-Kuhn-Gestalten, geradezu "neu erfinden", um ihren linken Wahlkampfsignalen und ihrem ernsthaften Interesse an einer erneuerten Gesellschaftspolitik Glaubwürdigkeit zu verleihen. Dann käme der Linkspartei eine Schlüsselfunktion zu für das Projekt einer sogenannten "Null-Tolerierung": Sie würde erklären, dass sie ohne vorherige Verhandlungen oder Kompromisse den von der SPD vorgeschlagenen Kanzlerkandidaten wählt, um dem Wählerwillen einer latenten Mitte-Links-Mehrheit nicht im Wege zu stehen. Weder würde sie dies zu etwas verpflichten noch müsste man sie mit dem Handeln dieses Kanzlers identifizieren.Damit ein solcher Eingriff funktioniert - und nicht etwa gleich vom Bundespräsidenten gecancelt würde - müsste ein zweiter, etwas schwierigerer Schritt hinzukommen: Die erklärte Bereitschaft aller, eine vom gewählten Kanzler geführte SPD-Minderheitsregierung mit einem Haushalt auszustatten. Die Zustimmung zum Haushalt könnte an Bedingungen gebunden werden, für die es auch bei SPD und Grünen eine relevante Unterstützung gibt, etwa Korrekturen bei Hartz IV, Wiedereinführung der Vermögenssteuer, Ausbildungsplatzabgabe oder gesetzliche Mindestlöhne.Dies würde einen großen Schub an Demokratisierung und Parlamentarisierung auslösen. Denn im Bundestag müssten gesellschaftspolitische Debatten geführt werden, eingebettet in Auseinandersetzungen und Kämpfe außerhalb des Parlaments, die immer wieder von Neuem bestimmen müssten, welche Politik und welche Gesetzgebung eine Mehrheit verdient. Die Ziele, für die es eine latente gesellschaftliche Mehrheit gibt - eine alternative Wirtschaftsstrategie, ökologischer Umbau, emanzipative Geschlechterpolitik, eine umfassenden Schutz der Menschen- und Bürgerrechte, gerechte Erneuerung des Sozialstaates und konsequente Friedenspolitik - müssten auf parlamentarischem Weg erstritten werden. Sowohl die Linkspartei als auch die Linken in SPD und Grünen könnten für Konzepte einer sozialen und ökologischen Transformation wieder öffentliche Aufmerksamkeit erringen. Allerdings müssten sie auch praxistaugliche politische Konzeptionen entwickeln, die von breiten Bündnissen getragen werden.Das Ziel einer solchen Politik wäre es nicht, die SPD "vorzuführen". Es ginge vielmehr darum, SPD (und Grüne) in eine Position zu bringen, in der sie in jeder wichtigen politischen Frage öffentlich begründen müssten, warum sie für eine neoliberale Politik die Unterstützung der Rechten suchen - obwohl in der konkreten Frage eine Mehrheit für eine soziale und ökologische Politik im Parlament zu finden und auch gesellschaftlich mehrheitsfähig wäre.