Zur Debatte um die Beschneidung von Jungen

Zirkumzision Den Religionsgemeinschaften steht eine große Transformation bevor. Debatten über Beschneidung und das Sonntagsläuten der Kirchtürme sind nur ein allererster Vorgeschmack
Zur Debatte um die Beschneidung von Jungen

Bild: Abdelhak Senna/AFP

Dies ist der letzte von vier Abschnitten (s.u.).

Bis auf Weiteres ist in modernen Verfassungsstaaten überall eine Art von Lösung gefunden worden, die in der individuelle Gewissensfreiheit als Grundlage individueller Religionsfreiheit mit der Garantie von Selbstverwaltungsrechten für Religions- (und auch Weltanschauungs-) Gemeinschaften verbunden worden ist.

Die elementare Frage, was ihre Einbettung im den Zusammenhang der Moderne von Religionsgemeinschaften verlangt, lässt sich in diesem Zusammenhang zum einen ganz klar beantworten: Sie müssen im Außenverhältnis alle in ihrem Inneren vertretenen Absolutheitsansprüche relativieren. Sie mögen zwar intern den Anspruch auf Unfehlbarkeit, den Status ‚Wiedergeborener‘ oder ‚Gerechter‘ beanspruchen, dürfen daraus aber im Umgang mit Anderen – wozu immer auch ihre eigenen ehemaligen, inzwischen ausgetretenen Mitglieder und Funktionsträger gehören – keinerlei praktische Konsequenzen ziehen. Deswegen ist es schwierig, die Differenz von Moderne und Vormoderne doktrinär festzumachen: Die etwa von Alain Badiou herausgehobene paulinische Herauslösung des Christentums aus der jüdischen rituellen Tradition war kein Abschied vom Rituellen; auch die von Hegel rekonstruierte Dialektisierung des Gottesbegriffs in der christlichen Theologie der Dreieinigkeit war keine Verabschiedung der Kategorie des personal gedachten Gottes. Zum anderen gibt es offenbar historisch große Bereiche, die dem Bereich des „verhandelbaren Dazwischen“ zugeordnet werden: Auch hier gilt zwar das allgemeine Gebot der Relativierung gegenüber Anderen (einschließlich der etwaigen Ausgetretenen), aber das schlägt nicht auf die Zulassung konkreter kultischer Praktiken durch. Das geht nach deutschem Recht so weit, dass auch etwa der Konsum von gesetzlich verbotenen Drogen als Bestandteil religiöser Kulthandlungen zulässig sein kann. Aber wie hier die Grenzen zu setzen sind, muss immer wieder neu ausgehandelt werden können und wird das auch: Nur so kann dem Absolutsetzungsverbot der

modernen Religionsverfassung auf die Dauer Genüge getan werden.

Vor diesem Hintergrund ist die jüngste Debatte um Menschenrechte und Religionsfreiheit zu analysieren und zu beurteilen: Die Wogen schlagen bekanntlich hoch und spontane Bewertungen werden gegeneinander geschleudert. Die einen treten für die Religionsfreiheit in, die anderen für das Recht auf individuelle Selbstbestimmung. Plötzlich scheint manchen Konfessionsfreien nicht mehr klar zu sein, dass Religionsfreiheit auch kollektive Praktiken, Kultus und Riten, umfasst und dass das Recht der Eltern schwer bestreitbar ist, für ihre Kinder wichtige Entscheidungen zu treffen. Auf der anderen Seite tauchen imaginäre Größen in der Debatte auf: Da wird ein kollektives „Selbstbestimmungsrecht“ für Kirchen und Religionsgemeinschaften gefordert, das mit einer modernen Staatsverfassung schlicht unvereinbar ist und das Eintreten eine Gerichts für das individuelle Recht auf körperliche Unversehrtheit wird flugs als ein Angriff auf die Religiosität der Gläubigen gewertet.

Konkret geht es um etwas weniger Eindeutiges als die sog. Beschneidung von Mädchen, eine Praxis der Genitalverstümmelung, auf die ‚Terre des femmes‘ durchaus zu Recht kritisch hinweist. Da es dort um eine eindeutige funktionelle Beeinträchtigung geht und keinerlei medizinische Argumente dafür angeführt werden können, steht es außer Frage, dass sie als illegale Praxis verfolgt wird, auch wenn sie für religiös geboten erklärt wird. Für die Beschneidung von Jungen, die keinerlei funktionelle Beeinträchtigung nach sich zieht, gibt es dagegen ernsthafte, wenn auch umstrittene medizinische Argumente (AIDS-Prävention, Prävention venerischer Erkrankungen und Reduzierung des Krebsrisikos am eigenen Penis sowie am Gebärmutterhals der Sexualpartnerin) und es gibt auch durchaus Eltern, die eine entsprechende medizinisch motivierte Beschneidungspraxis von Ärzten fachlich korrekt durchführen lassen. Dennoch ist die vom Gericht aufgeworfene Frage, in welchem Alter Jungen entsprechende Entscheidungen treffen können (vor ihrer Religionsmündigkeit, erst danach – oder überhaupt erst im Erwachsenenalter) eine ernsthafte Frage, auf die sich die Antwort keineswegs von selbst versteht.

Wenn wir uns klar machen, dass damit eigentlich die sehr viel weitergehende Frage verbunden ist, inwieweit Eltern das Recht haben, Lebensentscheidungen ihrer Kinder irreversibel festzulegen – auch die christliche Taufe gilt kirchenintern als nicht rückgängig zu machen, auch wenn sie keine körperlichen Merkmale zurücklässt – dann wird die Brisanz der Frage klar, um die es in dieser Debatte letztlich geht.

Denn es geht letztlich nicht etwa nur darum, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften für ihren Kultus keinen rechtsfreien und nicht von der Verfassung und der Menschenrechtscharta geregelten Raum beanspruchen können – das ist grundsätzlich klar und wird sich auch unaufhaltsam überall dort durchsetzen, wo noch Reste vormoderner Gemeinschaftlichkeit sich gleichsam unter dem Deckmantel der Religion bis heute reproduziert haben. Sondern es geht ganz elementar darum, dass alle Kirchen und Religionsgemeinschaften dazu herausgefordert sind, sich grundlegend zu transformieren, um wirklich mit modernen Verhältnissen kompatibel zu werden: Was der Kulturprotestantismus begonnen hatte und was die Entmythologisierung in der Theologie radikalisiert hat (nicht nur bei Barth und Bultmann und auch nicht nur im deutschsprachigen Protestantismus), nämlich die Anpassung der Theologie an die inhaltlichen und formalen Anforderungen moderner Wissenschaftlichkeit und moderner Gesellschaftlichkeit, kommt jetzt auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften zu[1]: Der ihren Absolutheitsanspruch nach außen relativierende Umbau ihres gesamten Kultus, d.h. der Gesamtheit der Praktiken, durch die sie sich ihrer Gemeinschaftlichkeit und Identität versichern in Formen, die mit der gesellschaftlich ‚normal werdenden‘ und verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmung und Würde aller singulären gesellschaftlichen Individuen kompatibel sind.

In Sachen der Überwindungen aller Substanzialisierungen ist diese Herausforderung nicht nur nach außen ein zwingendes Gebot – dem die katholische Kirche noch jüngst durch die Aufhebung der Exkommunikation Galileo Galileis entsprochen hat. Aber auch nach innen ergibt sich daraus eine entsprechende Anforderung – nämlich die nach der Herausbildung von ‚Reformdoktrinen‘, die Glaubensinhalte, Kultusgestalten und Riten unter dem Gesichtspunkt ihrer Vereinbarkeit mit dem Leben in modernen Gesellschaften reformieren.

Zugleich wird damit aber auch die Herausforderung formuliert, sich auch im Raum des „verhandelbaren Dazwischen“ diskursiv zu bewegen und in der Tat immer wieder neu auszuhandeln, welche Ausgestaltung religiöser Praktiken zeitgenössisch akzeptabel ist.

D.h. ohne Respektierung der individuellen Grundrechte nach außen wie nach innen wird dauerhaft in modernen Gesellschaften keine Religionsgemeinschaft und keine Kirche mehr auskommen können – um sich nicht selbst als eine autoritäre, strukturell vormoderne Pseudo-Gemeinschaft nach dem Modell von Scientology zu disqualifizieren. Hierfür immer wieder neue konkrete Formen zu finden, von der Taufe über das Verlassen der Gemeinschaft, von der Teilnahme am Kultus bis zur individuellen Beschneidung von Jungen und Männern, ist heute bereits die große Herausforderung, vor der alle zeitgenössischen Vertreter religiöser Praktiken stehen.

Hier steht absehbar noch eine große Transformation bevor, die sich nicht allein an einzelnen Praktiken wird festmachen können – und diese Transformationsanforderung wird sich nicht länger auf die bisher marginalen Religionsgemeinschaften beschränken, die weniger durch noch aus der Vormoderne überkommene soziopolitische Machtkonstellationen protegiert werden Sie wird vor allem auch die immer noch sehr viel etablierteren christlichen Kirchen treffen. Die gelegentlich aufkommenden Debatten über das Sonntagsläuten der Kirchtürme sind hier nur ein allererster Vorgeschmack.

Deswegen also die große öffentliche Aufregung an diesem Punkt. Aber es geht eben um weit mehr als die Beschneidung von noch kindlichen Jungen!


[1] Das gilt selbstverständlich auch für die nicht-religiösen Weltanschauungsgemeinschaften, die sich in dieser Hinsicht ebenfalls von einem vormodern geprägten Eiferer- und Sektierertum werden befreien müssen.

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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