Der letzte Schrei

Porträt Robert Harting will künftig keine zwei Bierfässchen mehr durch den Diskusring wuchten
Ausgabe 32/2018

Bereits im Vorjahr brachten die Veranstalter der Leichtathletik-EM in Berlin erste Werbevideos in Umlauf. Ein Spot begann mit Sprinter Julian Reus, der so entschlossen blickte, als müsse er gleich einen Boxkampf in der Max-Schmeling-Halle austragen, aber dann lief der 100-Meter-Spezialist doch nur neben einer S-Bahn. Weitspringerin Sosthene Moguenara überwand mit Anlauf die Kluft zweier Hochhäuser, ehe der Speerwerfer Thomas Röhler anlief, um sein Arbeitsgerät mitten in der Großstadt über eine Grünfläche zu schleudern. Dazu verkündete eine martialisch klingende Stimme: „Alle Augen sind auf dich gerichtet. Wer auch immer dein Gegner ist: In dieser Arena, unter diesem Himmel gibt es nur einen, der dich schlagen kann: du selbst.“

Das Erstaunliche an diesem Trailer war nicht die Umsetzung, sondern die Besetzung: Robert Harting fehlte, eine der Galionsfiguren der deutschen Leichtathletik im zurückliegenden Jahrzehnt. Wer bitte hatte bei Welt- und Europameisterschaften sowie Olympischen Spielen den Nachweis erbracht, auf den Punkt alles rauszuhauen? Doch wohl dieser Diskuswerfer. Vielleicht schien es wegen seiner Verletzungshistorie zu unsicher, mit ihm die Werbetrommel zu rühren.

In dieser Woche jedoch kommt in Berlin niemand mehr am 33-Jährigen vorbei. Auf die Fassade des Upper-West-Hochhauses am Bahnhof Zoo ist sein Konterfei projiziert. Auf einem Micky-Maus-Heft prangt er als Comicfigur mit Entenschnabel, der Donald Duck das Trikotzerreißen erklärt. Die Aufmerksamkeit ist dem Anlass angemessen: Nur ein einziges Mal will der aus einer sportiven Familie in Cottbus hervorgegangene 120-Kilo-Koloss nach seinem sechsten Platz bei der EM noch in den Ring steigen. Beim Istaf-Meeting am 2. September, das ebenfalls in Berlin ausgetragen wird.

Die deutschen Athleten vermissen den seit zwei Jahren mit der Diskuswerferin Julia Fischer verheirateten Frontmann schon jetzt. „Der Robert ist ein spezieller Typ, eine Persönlichkeit“, sagt die Sprinterin Tatjana Pinto. Und die Diskuswerferin Claudine Vita meint: „Da geht auf jeden Fall eine große Persönlichkeit verloren. Robert Harting ist ein Mensch, der Mut hat, einfach alles zu sagen.“ Seine Äußerungen („Wenn mich etwas ankotzt, sage ich es“, DLV-Jahrbuch 2013) haben genauso für Aufsehen gesorgt wie seine Aktionen.

Etwa als sich der 2,01-Meter-Hüne aus dem Kandidatenkreis für die Wahl zum Weltleichtathleten 2014 streichen ließ, weil auf der Liste auch der ehemalige Dopingsünder Justin Gatlin auftauchte. Heute sagt Harting zwar, er sei institutionell an seine Grenzen gekommen, und er werde den internationalen Sportzirkus mit seinen Dopingproblemen nicht mehr verändern. Aber: „In der Leichtathletik wird nie wieder jemand zur Wahl des Jahresweltsportlers eingeladen, der ein Dopingvergehen hatte. Dieser Paragraf ist eine Veränderung, auf die ich stolz bin.“ Dies sei eine „ideelle Zäsur“.

Weggefährten sagen, das einst extrem streit- und reizbare Alphatier sei inzwischen ein bisschen angepasster. Beim Sommerfest in Kienbaum saß er 2017 mit Kanzlerin Merkel an einem Tisch, vor der WM 2017 in London ließ er verlauten, sich später einen Job als Sportminister zuzutrauen, der den Sportetat verwaltet. Fehltritte wie vor der WM 2009 würden ihm gewiss nicht mehr passieren. Damals hatte er erst über die mögliche Freigabe von Doping schwadroniert, dann nach der Qualifikation ausgerechnet die Dopingopfer des DDR-Systems verhöhnt und selbst lange mit dem nicht bestens beleumundeten Trainer Werner Goldmann zusammengearbeitet. Bevor er in Berlin vor neun Jahren seinen ersten großen Titel gewann, schimpfte er, dass seine Scheibe am besten gegen die Pappbrillen fliege, die sich draußen die Demonstranten vom Doping-Opfer-Hilfeverein aufgesetzt hatten. Ein Skandal. Deutschlands Leichtathlet des Jahres 2009 wurde er trotzdem.

Zwei Jahre später, nach dem zweiten WM-Titel in Daegu, präsentierte derselbe Mann unter der rauen Schale einen weichen Kern. Nach der Siegerehrung sprach er sichtlich bewegt über einen in Afghanistan umgekommenen Freund, dem er die Goldmedaille widmete. Zu dieser Zeit gehörte er zur Sportförderkompanie Potsdam. Das soldatische Tun war eben auch Teil eines Lebens.

Wirrungen und Widersprüche reichen bis tief ins Privatleben. In einem der wenigen Doppelinterviews mit seinem sechs Jahre jüngeren Bruder Christoph beschrieben sie einmal das Faszinierende an ihrer Disziplin so: „Man braucht schon gewisse Voraussetzungen fürs Diskuswerfen: Körpergröße 1,90 plus, lange Hebel, Schnellkraftfähigkeiten“ (Christoph Harting). „So ein Zwei-Kilo-Diskus wird bei mir durch die Drehung bis 70 Kilo schwer. Für Männer leicht zu rechnen: Das sind zwei volle Fässchen Bier, die man halten muss“ (Robert Harting).

Damals war nicht zu erahnen, dass ein solch lockerer Plausch bald nicht mehr gehen würde. Zu unterschiedlich die Charaktere. Vielleicht auch zu groß das Ego. Aus dem Nicht-Verhältnis macht heutzutage keiner mehr ein Hehl. Klar, dass diese Entfremdung auch in der vom Filmemacher Guido Weihermüller erstellten Dokumentation Sechsviertel auftaucht, aus der später noch ein Berlinale-Film fürs Kino entstehen soll.

Robert Harting sagt darin: „Das Verhältnis ist erfroren.“ Immerhin richtete der jetzt bei der Europameisterschaft schon in der Qualifikation gescheiterte Christoph Harting, Olympiasieger von Rio de Janeiro 2016, zuletzt im ZDF-Sportstudio einigermaßen aufrichtig aus: „Das ist eine Sportkarriere, die alles hergibt.“ Und wenn die Geschichte genau da aufhöre, wo sie angefangen habe, so der jüngere Bruder, „klinge das einfach nur rund“. Dann kann der Mensch dahinter ruhig Ecken und Kanten haben.

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