Bildband „Deponie“ von Tobias Kruse: Totale Gegenwart ostdeutscher Altlasten
Fotografie Tobias Kruse reiste durch verödete Landstriche, in Fußballstadien, besuchte Demonstrationen. Wie „vergiftet“ das gesellschaftliche Klima ist, zeigt seine Fotoreihe „Deponie“, die kürzlich mit dem Lotto-Brandenburg-Kunstpreis geehrt wurde
Die Deponie Schönberg in Mecklenburg war zu Zeiten der DDR der Ort, an dem der Westen kostengünstig seinen Sonder- und Giftmüll entsorgen konnte. Die DDR freute sich über die Devisen und erklärte die Umweltbelange zur Geheimsache. In der BRD war man froh, den Dreck der Konsumgesellschaft billig loszuwerden. Bedenken gab es beiderseits der Grenzen seitens der Obrigkeit kaum. Es wird vermutet, dass auch Überbleibsel des Seveso-Unglücks 1976 hier endeten.
Für den 1979 geborenen Ostkreuz-Fotografen Tobias Kruse, der in der Nähe aufwuchs, war diese Deponie, in der im übrigen heute noch Giftstoffe aus ganz Europa verklappt werden, Sinnbild und Ausgangspunkt seiner Recherche über ostdeutsche Seelenzustände. Für seine Werkserie Deponi
rie Deponie reiste Kruse 8000 Kilometer durch den Osten der Bundesrepublik, um Gefühle der Angst, Wut und Aggression in der gegenwärtigen ostdeutschen Gesellschaft einzufangen und in assoziativen Bildern zu verarbeiten. Nachdem Deponie bereits in verschiedenen Ausstellungshäusern wie den Hamburger Deichtorhallen oder FOAM Amsterdam zu sehen war und Ende letzten Jahres der Bildband erschienen ist, wurde die Arbeit gerade mit dem Lotto-Brandenburg-Kunstpreis Fotografie geehrt.Kruse verbrachte seine Jugend in Mecklenburg in den 1990er Jahren, einer Zeit, über die vor ein paar Jahren unter dem Stichwort Baseballschlägerjahre intensiv debattiert wurde. Gemeint ist damit jene Nachwendezeit, in der nach dem Zusammenbruch der autoritären DDR-Strukturen in den entstandenen, nahezu rechtsfreien Räumen Neonazis begannen, den ostdeutschen Alltag zu dominieren. Gerade in der Provinz, den Dörfern und Kleinstädten, etablierte sich der Rechtsextremismus fast flächendeckend, und diejenigen, die von den Nazis als Feinde angesehen wurden, also Migranten, Alternative, linke Antifas oder auch engagierte Christen, wurden beleidigt und bedroht – manche sogar zu Tode geprügelt.Die Verrohung einer Jugend, die kurz zuvor noch als „Bannerträger des Sozialismus“ galt, symbolisiert nichts besser als der ungewöhnlich brutale Mord an dem 16-jährigen Marinus S. im uckermärkischen Potzlow, der 2002 einen kurzen Aufschrei des Entsetzens in der ansonsten in Lethargie versunkenen ostdeutschen Öffentlichkeit verursachte. Die gleichaltrigen Täter hatten ihr schwächeres Opfer regelrecht gefoltert, dann mit einem „Bordstein-Kick“ getötet und anschließend in die Jauchegrube geworfen. Clemens Meyer hat diesen Verlust des moralischen Kompasses als Nachwendephänomen in seinem Roman Als wir träumten gut beschrieben.Fakt ist, die AfD ist in allen neuen Bundesländern stärkste KraftIn der Gegenwart gibt es einen breiten Diskurs über die Frage, welche psychologischen Verheerungen Orientierungslosigkeit und die ökonomische Schockstrategie nach der Wiedervereinigung in ostdeutschen Köpfen hinterlassen haben. Die Brüche in den Biografien wirken ja bis heute in vielen Familien nach. Die Anfälligkeit für extreme Ideologien allein darauf zurückzuführen, greift freilich zu kurz. Neonazis gab es schon in der DDR und ebenso im Westen. Wie sehr die alten Ressentiments lediglich im Verborgenen überwinterten, bis ihre Zeit wieder gekommen war, ist an den heutigen Wahlerfolgen der AfD ablesbar.Deren wichtigste Funktionäre sind im Übrigen fast ausschließlich Westimporte. Wie der Westen sich den Osten als negative Projektionsfläche erfindet, ist derzeit Gegenstand heftiger Debatten rund um Dirk Oschmanns Buch Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung. Ob man Oschmanns These, im seit 1989 vorherrschenden, westdeutsch bestimmten Diskurs heiße ‚Osten’ vor allem Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, zustimmt oder nicht; Fakt ist, dass laut aktueller Umfragen die AfD in allen ostdeutschen Bundesländern (mit Ausnahme Sachsen-Anhalts, wo die CDU stärker abschneidet – noch) stärkste Kraft geworden ist. Das ist ganz sicher nicht allein mit dem Unmut darüber zu erklären, dass der Osten im gesamtdeutschen Diskurs keine eigene Stimme hat, so sehr Oschmann in seinen Thesen ansonsten zuzustimmen ist. Man braucht gar nicht die Morde des NSU, Pegida, den Attentäter von Halle oder ähnliche Vorfälle zu bemühen, um zu konstatieren, dass, um es mit Brecht zu sagen, der Schoß auch unabhängig von den Demütigungen der letzten dreißig Jahre noch äußerst fruchtbar ist.Placeholder image-1Placeholder image-2Placeholder image-3Placeholder image-4Die ostdeutschen Kinder und Jugendlichen der 1990er, die den DDR-Sozialismus nur noch aus Erzählungen kannten, dem nachfolgenden Erstarken des Neonazismus dagegen täglich ausgesetzt waren, sind heute erwachsen und haben ihrerseits Kinder, denen sie ihr Gedankengut weitergeben. Es ist nicht übertrieben, von einer mittlerweile tradierten rechten (Jugend-) Kultur zumindest in den ländlichen Gegenden zu sprechen. Die Leerstellen, welche die Schließung von Jugendklubs und anderen sozialen Einrichtungen hinterlassen haben, sind nur allzu gern von rechten Ideologen gefüllt worden. Die Akzeptanz, die es heute gegenüber rechten, rassistischen Einstellungen gibt, ist maßgeblich in den 1990er Jahren gesät worden, wenn sie nicht schon vorher vorhanden war.Der Werktitel „Deponie“ steht auch für die Altlasten und Verwerfungen der WendezeitAngesichts der eigenen Prägungen wohnt Kruses Beschäftigung mit den Spuren und Narben einer Zeit, die bis heute ihre Schatten wirft, eine biographische Dringlichkeit inne. Für ihn evozieren die Bilder, die er gefunden hat, die Erinnerung an seine damalige Jugend in den „Neuen Ländern“ und übertragen sie in die Jetztzeit. Der Werktitel Deponie mag dabei für die Altlasten und Verwerfungen der Wendezeit stehen, die bis heute wie ein alter Abszess vor sich hin schwelen und ihr Gift absondern. Seine Beschreibung (ost-) deutscher Zustände arbeitet mit Zeichen und Symbolen, die zunächst irritieren, sich aber in der Gänze zu einer essayistischen Annäherung an Befindlichkeiten formen.Auf der Suche nach Vorbildern bietet sich Michael Schmidts Mitte der 1980er Jahre entstandenes Buch- und Ausstellungsprojekt Waffenruhe an. Mit verdichteten, ausschnitthaften und kontrastreichen Schwarzweißaufnahmen von Stadtlandschaften, Naturdetails und Porträts schuf Schmidt ein subjektives und facettenreiches Bild der damals geteilten Stadt Berlin. Ähnlich wie Schmidt versucht Tobias Kruse, eine formale fotografische Entsprechung für ein Lebensgefühl zu finden, welches durch den als bedrohlich empfundenen Verlust aller Gewissheiten und Autoritäten und die daraus folgende diffuse Wut in den Köpfen vieler Ostdeutscher geprägt ist. Beispielhaft dafür kann das Bild der Chemnitzer Karl-Marx-Statue stehen. Kruse lässt den „Nischel“ unheimlich, gar bedrohlich wirken, wie ein Menetekel. In seiner dämonischen, düsteren Ausstrahlung wirkt er wie ein Symbol des Scheiterns einer Gesellschaft – damals, aber vielleicht auch heute wieder?Mit kleinen Andeutungen zeichnet er das Bild einer Jugend, die in exzessiven Ausschweifungen und mit Gewalt den Verlust des inneren Kompasses kompensiert. War es in den 1990er Jahren die Elterngeneration, die im eigenen Kampf um einen Platz im neuen System ihre Kinder im Stich ließ, ist es heute die Sinnleere einer Gesellschaft im Konsumwahn, die von rechten Rattenfängern gefüllt wird. Der oben beschriebene biographische Hintergrund dient Kruse als Folie für eine sehr gegenwärtige Erzählung; sein lakonischer Kommentar auf die Zerrissenheit der ostdeutschen Gesellschaft kommt ohne historische Fotos aus. Bilder wie jenes von Fußballfans mit gestrecktem rechten Arm tragen etwas unheilvoll Zeitloses in sich. Das Schwarzweiß der Bilder wird dabei zum Scharnier zwischen den Zeitebenen. Als Kunstgriff in Buch und Ausstellung erweist sich auch eine Tafel mit einer Liste von Schlagworten – Ortsnamen, aber auch Begriffe oder Wörter –, die beim Betrachter sofort das Kopfkino und eine Assoziationskette in Gang setzen sowie das Geschehen verorten. Sonstigen Text benötigt Deponie nicht.Kruses Blick auf Deutschland hat kein Happy End und lässt wenig Raum für einen optimistischen Blick. Ironie der Geschichte: während die eine Zeitenwende gerade aufgearbeitet wird, befinden wir uns schon mitten in der nächsten. Allmählich macht sich eine Ahnung breit, dass unser Lebensmodell in seiner gegenwärtigen Verfasstheit den Zenit überschritten hat und wir – wie vor 30 Jahren schon einmal – vor ungeahnten Umwälzungen stehen, welche die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern werden. Angesichts der europaweiten autoritären und reaktionären Tendenzen besteht dieses Mal jedoch kein Grund zur Vorfreude. Mit Deponie ist es Tobias Kruse gelungen, ein Zeitgefühl in Bilder zu fassen, welches im Dahinschwinden aller unumstößlich geglaubten Sicherheiten besteht.