Der weiße Riese verfolgt mich mein Leben lang schon. Es ist das Erbe meiner Herkunft aus der Kleinstadt, in der ein Kneipenbesuch den Ruf gefährdet. So etwas wie Nachbarschaftskneipen, was der Golden Pudel Club nach eigener Aussage in Zukunft auch sein will, gab es in dem Dorf meiner Jugend nicht. Stattdessen gab es den weißen Riesen, mit dem niemand sprach, weil er in der Nacht lebte und am Tag schlief. Ab und zu begegnete man ihm spät auf der Straße wie einem Gespenst.
Von der Wiedereröffnung des Pudel Clubs habe ich bei der Beerdigung eines anderen Clubs erfahren. Das Yoko Mono, Nachbarschaftskneipe und Künstlertreff, musste für immer seine Pforten schließen. Bei Bier und Würstchengrill wurde drei Tage hintereinander „Abschied genommen“. Dass diese Schließungen von Clubs nicht gerade Trauerveranstaltungen sind, sollte man spätestens seit Tino Hanekamps Roman So was von da (2011) wohl wissen, in dem die Abrissparty der Weltbühne beschrieben wird. Manchmal hat man sogar das Gefühl, dass sie, so sehr man auch an dem einen oder anderen Laden hängen mag, so etwas wie religiöse Veranstaltungen darstellen, die im Kern dem Gott der Erneuerung huldigen, einem der wichtigsten Götter im Kulturgeschehen. Für Eröffnungen und Wiedereröffnungen gilt das erst recht.
So eine Art Showtreppe
Ich schüttele den weißen Riesen ab und steige aus dem Taxi. Vor der Tür der halb wieder aufgerichteten Ruine hat sich bereits um 22 Uhr eine Menschentraube gebildet, die sich später noch bis auf die Treppe zur Bernhard-Nocht-Straße hinauf erstrecken wird. Ein junger Mann schmeißt eine leere Bierflasche auf den Boden und liefert einer Gruppe anderer junger Menschen eine fadenscheinige Erklärung dafür. Liegt da etwas Aggression in der Luft? Jetzt schon? Der Weg zum Tresen ist so eine Art Showtreppe. Wenn es voll ist, muss jeder neue Gast hier durch und wird dann auch unbedingt bemerkt. Der erste Eindruck: Der Pudel ist wieder da. Alles unverändert, außer: Oh mein Gott, sie haben den Tresen umgedreht! Das gehört sich so nicht. Der Tresen im Pudel hat quer und nicht längs zu stehen. Ich will das nicht. Das Konservative hat voll und ganz von mir Besitz ergriffen, und es kommt noch schlimmer: Hinter dem neuen hässlichen Längsding arbeiten sich Charlotte Knothe, Viktor Marek, Richard von der Schulenburg und Paul Pötsch schwitzend und am Rande des Nervenzusammenbruchs an einer Gerölllawine ab, die von hinten immer mehr Material nachschiebt. Es besteht nicht viel Hoffnung, in unter einer halben Stunde an irgendetwas zu trinken zu kommen. Ich gehe also mit meiner Begleitung ins benachbarte Stoer, um einen Wein zu trinken. Früher ist man sowieso nie vor 23 Uhr in den Pudel gegangen. Genau so kommt es dann auch. Die meisten Menschen scheinen jetzt satt zu sein, was den Alkohol angeht, und fangen an, zu tanzen. Vorhin lief noch Gang of Four als Verweis auf die Urwurzel des Punk, jetzt hat die experimentelle, aber tanztechnisch durchaus verwertbare Elektronik übernommen, für die der Pudel in aller Welt bekannt ist. Wir sind im Hier und Heute.
Dass wir das sein dürfen, haben wir dem Verein Verfüge e.V. (Pudel Verein für Gegenkultur e.V.) und der Mara und Holger Cassens Stiftung zu verdanken. In einer gemeinsamen Anstrengung haben sie den Laden aus einer verfahrenen Situation herausgeholt und aus einer löschwasserverseuchten Brandruine zusammen mit ein paar tatkräftigen Handwerkern wieder einen Pudel gemacht, der ja die Voraussetzung dafür ist, dass Ralf Köster und alle, die noch dafür verantwortlich sind, das Programm machen können, das sie machen.
Ich stehe an der Ecke, in der ich immer stand, wenn es sehr voll ist im Club. Die Ecke, an der das Münztelefon hing und an der man etwas Ruhe hatte vor den von der Tür her zum Tresen drängenden Menschenmengen. Der Ausstellungsraum, in dem ich selbst neben Jonathan Meese, Daniel Richter und anderen schon ausstellen durfte, zwischenzeitlich als Garderobe entweiht, ist wieder da. Die Garderobe befindet sich jetzt vor den Toiletten, wo die Getränke gelagert waren, so erklärt sich auch der gedrehte Tresen.
Die neue Einrichtung erinnert mich an das Jubiläum, das vor Jahren in der Kulturfabrik Kampnagel begangen wurde, wofür das gesamte heruntergetrashte Mobiliar des Pudels von Theaterhandwerkern nachgestellt worden war. Im runderneuerten Post-Brand-Pudel hängen jetzt draußen perfekt nachgebildete Abbilder der 1990er-Jahre-„Notlösungen“ des Pudel-Mitgründers Norbert Kahl aus edlen Hölzern, anstelle der schnell im Baumarkt besorgten Übergangsmaterialien. Der Eindruck von zu Museumsstücken geronnenen Provisorien zieht sich als Leitmotiv durch den neuen Pudel. Aber statt der länger schon entsorgten, weil lebensgefährlichen Gasheizung hängt jetzt eine Klimaanlage im Raum und der eine Plattenspieler mit einem Mikro an der Wohnzimmer-Hi-Fi-Anlage ist durch ein professionell optimiertes Soundsystem der Firma Totec ersetzt worden. Okay, da gab es in Wirklichkeit noch ein paar Stufen dazwischen.
Im Sommer sitzt und steht man eigentlich eher um den Laden herum. Man läuft in L-Form auf und ab, um das Publikum zu begutachten und bleibt an irgendeinem bekannten Gesicht hängen. Wenn man Glück hat, ergibt sich sogar ein Sitzplatz auf einer Bank unter einem der Provisorien. Ein Regenschauer spült uns das Publikum direkt auf den Schoß. Eine junge Trinkerin, die ihre Wurzeln im Cornern hat, fragt mich, ob ich wüsste, ob der Kiosk in Richtung Fischmarkt noch auf hätte. Ich erwidere, dass ich das nicht wissen könne, weil ich meine Getränke selbstverständlich bei den Pudelbetreibern erwürbe. Das freche junge Ding daraufhin: „Wenn ich selbst im Kulturbetrieb angekommen bin, werde ich mir das auch leisten können.“ Anstatt ihr die Parallelen des Cornerns zum Musikgeschäft zu erläutern oder ihr gar die Illusionen hinsichtlich des Kulturbetriebs zu nehmen, merke ich mir lieber den Weg zu dem Kiosk, den ich noch nicht kenne, und unterhalte mich weiter mit dem Ex-Sterne-Keyboarder Taco van Hettinga. Wir haben etliche gemeinsame Erinnerungen, die aufgearbeitet werden müssen. Allerdings werden wir irgendwann abbrechen müssen, weil immer jemand dazwischenquatscht oder nicht vom Bierholen zurückkommt.
Im Blinddarm der Greise
Gegen Ende lande ich noch im Blinddarm der Greise, wie Jakobus Durstewitz, Allroundmusiker und Maler, den toten Winkel hinter der Eingangstür nennt. Rocko Schamoni lehnt an der Wand. Wir kommen ins Gespräch. Wir sprechen nicht über die alten Zeiten. Wir sprechen nicht über den Pudel. Worüber wir sprechen, geht euch nichts an. Es geht um die Zukunft, das nächste Projekt, das auch wieder scheitern kann, wie so viele zuvor oder eben auch nicht. So wird sich auch die Zukunft des Pudels daran entscheiden, wie hier Programm gemacht wird. In dem Blinddarm der Greise stehen auch die Typen, die in dem Glauben leben, zur Kulturelite zu gehören, obwohl sie neben dem Abgreifen von Kultursubventionen eigentlich nichts Erwähnenswertes produzieren oder sowieso nur Dienstleister sind. Die muss man wohl ebenso in Kauf nehmen wie den flaschenschmeißenden Jüngling, dem die Hormone überkochen. Nur darf man sie auf keinen Fall an die Macht kommen lassen, sonst droht dem Pudel das gleiche Schicksal wie dem Westwerk, in dem sich die frühverrenteten Künstler der Stadt eingenistet haben, oder eine weitere Kampftrinkerbude, von denen es auf St. Pauli schon so viele gibt. Hoffen wir das Beste. Erst einmal wird weiter gebaut. Das obere Stockwerk wird wieder errichtet, in das unter anderem das Park Fiction Archiv einzieht, und der Park sowie das Amphitheater werden wieder in das Pudelgeschehen mit einbezogen werden. Das alles wohl aber erst im nächsten Sommer.
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