Der Zusammenbruch der einstigen Volkspartei ist dramatisch, die dadurch beschleunigte Auflösung der vertrauten Parteienlandschaft, die zur Stabilität der Republik wesentlich beitrug, erschreckend. Einer, der das Ende der Volkspartei SPD lange kommen sah, ist der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter. In diesem Jahr hat er seine Geschichte der SPD überarbeitet und neu aufgelegt. Es ist nun das Buch der Stunde. Klar wird, dass der Absturz dieser Partei nicht einfach aus dem Zusammentreffen unglücklicher Ereignisse mit überfordertem Führungspersonal resultierte, vielmehr die fast zwangsläufige Folge geschichtlicher Prozesse und gesellschaftlicher Transformationen ist.
Wie keine andere Partei hat die SPD für die Gründung und den Bestand der ersten parlamentarischen Demokratie Deutschlands gefochten. Um so tragischer scheint es, dass es ihr nie gelang, ein gelassenes Verhältnis zum Regieren zu finden. Walter stellt heraus, wie Opposition ihr eigentliches Leben immer schon war: „Die im eigenen Biotop kultivierte Erzählung von einer ganz anderen, besseren, konfliktfreien Zukunftsgesellschaft kompromittierte jede in aller Regel weniger lichte Regierungspraxis, ließ die exekutiven Anstrengungen – gleichviel ob unter Philipp Scheidemann, Gustav Bauer, Hermann Müller, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder zuletzt Gerhard Schröder – stets als unzureichend erscheinen.“ Das führte über Jahrzehnte zu chronischen Selbstanklagen, und produzierte „regelmäßig parteipolitische Neubildungen und Abspaltungen, die sich aus der Differenz von transzendentalen Zukunftsversprechen und kleinteilig erscheinender Alltagspolitik ihr Gründungsfutter holten“.
Da begreift man, wie selbst noch ein Kevin Kühnert die DNA dieser Partei in sich trägt. Und wenn sie dann doch in die staatspolitische Verantwortung traten, stolperten sie eher ins Amt. Einmal – 1969 unter Kanzler Willy Brandt – gelang den Sozialdemokraten ein durchdachter Eintritt in die Regierung, beim Start der ersten sozialliberalen Koalition. Noch heute berichten ehemalige Minister dieses Kabinetts, mit wie viel – oft schon gesetzesreif formulierten – Konzepten sie ihre Ämter übernahmen. Dieses eine Mal hatten sie ein Konzept und bebten geradezu vor Reform- und Regierungsdrang. Aber ansonsten „war den Sozialdemokraten vor und nach Brandt–Wehner–Bahr kaum einmal exakt klar, was politisch präzise gemacht werden sollte“. Auch Schröders Agenda 2010 war nicht strategisch vorgedacht worden, sondern eine „durchgeführte Notoperation, ohne eigenen Plan, allein mit flüchtig entliehenen Versatzstücken aus der Ideologieproduktion anderer politischer Kräfte dürftig zusammenkompiliert“. Das Ende der sozialliberalen Koalition markiert einen weiteren Einschnitt: Die traditionellen gesellschaftlichen Rückzugsräume in der Opposition hatten sich geistig und emotional geleert. Anders als vor dem Krieg und auch noch in den 1950er und 60er Jahren gab es nicht mehr die von Walter einfühlsam beschriebene „wärmende Heimstatt“ ihres Milieus, in der ihre Vorfahren „erbauliche Revolutionslieder sangen und süßliche sozialistische Poesie rezitierten“.
Diffus-gemäßigt libertär
Das Milieu selbst zerfiel in den sozialliberalen Jahren; viele gemeinschaftliche Institutionen wurden verstaatlicht oder auch nach Misswirtschaft und Korruption in den eigenen Reihen privatisiert. Die „unteren Schichten“ fühlten sich zusehends von denen missachtet, die sie lange vertreten hatten. Denn viele Sozialdemokraten machten mit dem Aufschwung ihrer Partei Karriere und entwuchsen ihrer Herkunft. Das ist ihnen kaum vorzuwerfen. Aber wie beim Fliegen kann auch in der Politik ein Strömungsabriss zum Absturz führen. So fehlt den Sozialdemokraten „mittlerweile der kulturelle und soziale Erfahrungsreichtum verschiedener innerer Strömungen. Ihnen fehlen die Seismographen für Gefühlslagen, Sinnmuster, Alltagserdungen, aber auch für Träume, Ängste und Hoffnungen in der Bevölkerung. Und ihnen mangelt es dadurch an Integrationskraft in die Breite, nach unten, in das Neue, das Andere hinein“.
Erst unmerklich, dem Zeitgeist folgend, dann immer deutlicher veränderte die SPD dabei ihr politisches Profil. Nun verstand sie „Linkssein nicht mehr in erster Linie ökonomisch; auch Verteilungsfragen bewegten sie nicht primär. Ein diffus kulturelles, gemäßigt libertäres und rhetorisch kosmopolitisches Linkssein hatte um sich gegriffen (...). Die kulturelle Vielfalt empfanden sie als Bereicherung, Geschlechterdifferenzen begriffen sie als kulturell statt biologisch bedingt. Glaube, Nation, Heimat galten ihnen als Chiffren bornierter Rückständigkeit“.
Der Versuch, eine solche „libertäre“ Programmatik zurückzudrehen, ist schwer und steht stets unter dem Verdikt des Reaktionären. Das kann eine Partei zerreißen, wie Sarah Wagenknechts Bemühen, ihre Partei wieder auf traditionellere Füße zu stellen, gerade anschaulich zeigt. Auch der Staat, auf den die Sozialdemokraten in solchen Situationen gern setzen, wird es nicht richten, weil sich die Sorgen in den unteren Schichten vor der Konkurrenz der Zuwandernden nicht verstaatlichen lassen. So verbleiben die sozialdemokratischen Artisten ratlos in der Zirkuskuppel. Und die von ihnen Verlassenen wenden sich beinahe weltweit den Rechtspopulisten zu. Damit verschiebt sich das politische Gefüge der Republik grundlegend. Und das in einer Zeit, in der sich am Horizont der digitalen Revolution Veränderungen für die Gesellschaften in einem enormen Ausmaß abzeichnen; die wirklich großen sozialen Konflikte sind ja noch gar nicht ausgebrochen.
Um so dramatischer wirkt Walters Befund: „Konzeptionell sind die programmatischen Depots der sozialen Demokratie nicht stärker gefüllt als in den 1840er und 1860er Jahren, als doch alles begann; vermutlich ist der Vorrat gar kleiner, was allerdings ebenso für die anderen Parteien mit weltanschaulicher Erbschaft aus dem 19. Jahrhundert gilt.“ In einer der stärksten Passagen seines Buches buchstabiert Franz Walter die wichtigsten Gegenwartsfragen durch, ausgehend vom Widerspruch zwischen individuellen Bedürfnissen nach Besitz, Privatheit und den universellen Gleichheits- und Solidaritätspostulaten. Dass auch die anderen Parteien darauf keine Antworten gefunden haben, deutet auf eine beunruhigende Erschöpfung des politischen Betriebs.
Die Unterzeile Biographie einer Partei passt genau, nicht nur weil Franz Walter über die SPD wie über einen Menschen schreibt, spannend und anschaulich, durchaus empathisch, ohne dabei scharfe Analysen und klare Wertungen zu scheuen. Sondern auch deshalb, weil Biografien meist zum Ende eines Lebens verfasst werden. Und die SPD ist an das Ende ihrer langen Zeit gelangt. Das entwickelt Walter mit einer gewissen freundlichen Unerbittlichkeit. Sicher mag es, konzediert er, für sie noch eine Perspektive geben als eine von mehreren Parteien, „nunmehr ohne die historische Aura von ehedem, eine künftig sozial engere Interessenpartei gemäßigt sozial, moderat kosmopolitisch, gebremst ökologisch, behutsam partizipatorisch eingestellter Bürger irgendwo in der weit gestreuten Mitte der Republik“, aber eben ohne „eine singuläre Position in der politischen Landschaft“.
Am Ende des Buches erwähnt Franz Walter en passant die schwere Krankheit, die ihn nun seit zwei Jahren im Bann hält. Um so tiefer beeindruckt einen, dass es ihm gelang, diese Arbeit über die Partei vorzulegen, die ihn fast sein Leben lang begleitet und beschäftigt hat. Eine Arbeit, die nirgendwo parteilich geraten ist, jedenfalls nicht in einem parteipolitischen Sinn. Dank Walter verfügt die SPD endlich über ein Standardwerk zu ihrer Geschichte – jetzt, wo sie selbst Geschichte wird.
Info
Die SPD: Biographie einer Partei von Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles Franz Walter Rowohlt 2018, 416 S., 16 €
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